NEUES KAPITEL FüR ECKHAUS MIT SCHUBLADE
Für den komplexen Umbau einer mittelalterlichen Liegenschaft in der Zuger Altstadt gewann der ausführende Architekt eine renommierte Auszeichnung. Wer die Hintergründe des Bauvorhabens kennt, versteht, warum.
Wenn von einem «ergebnisoffenen» Prozess die Rede ist, klingt dies irgendwie beruhigend. Da wird ein Vorhaben ohne Erwartung an ein bestimmtes Ergebnis angestossen. Auch der Zürcher Architekt Stefan Wülser verwendet den Ausdruck, etwa um darzulegen, wie er arbeitet, wenn er Potenziale von historischen Häusern erkennen will. «Wenn man vorschnell mit fixen Ideen kommt, resultieren daraus meist nicht die besten Konzepte», sagt der 43-Jährige, der von 2021 bis 2024 die Liegenschaft Seestrasse 1 in Zug sanierte.
Fest stand im konkreten Fall nur etwas: Möglichst viel von der alten Bausubstanz – der Kernbau des Hauses stammt aus dem 15. Jahrhundert – zu erhalten. Schliesslich handelt es sich beim kleinen Eckhaus zwischen Landsgemeinde- und Postplatz, wo vorher der «Pizza Point» eingemietet war, um einen wichtigen Zeitzeugen der Stadterweiterung ab 1478. Auch die Bauherrschaft startete den Prozess «ergebnisoffen». Sie kaufte das Haus 2021 nicht als Renditeobjekt, um es «luxussaniert» teuer zu vermieten. Von Anfang an war ihr Ziel, das historische Gebäude nach der Sanierung selbst zu nutzen – als mehrstöckiges Arbeits- und Wohnhaus mit einem öffentlichen Bistro im Erdgeschoss, das zur Belebung der Altstadt beitragen soll.
Das Bauprojekt startete mit einer archäologischen und bauhistorischen Untersuchung, bei der Schichten abgetragen und Bauteile sorgfältig freigelegt wurden. So erfuhr man viel Wissenswertes über die Entstehungsgeschichte des Hauses. Herausgefunden hat man zum Beispiel, dass sich zwischen der Seestrasse 1 und dem Raingässli 3 ursprünglich eine kleine Gasse befand, die im Laufe der Jahre jedoch mit einem zusätzlichen Bauteil «geschlossen» wurde. So kam es zu einer Art baulicher Heirat der beiden Häuser.
Was das für die nun sanierte Liegenschaft bedeutet? Zwei Räume im Haus Seestrasse 1 befinden sich im Haus Raingässli 3, warum Ersteres den klingenden Zunamen «Schublade» erhielt. Zudem stiess die Bauforschung im Erdgeschoss auf eine Grube mit Holzkohle und verbranntem Eisen. Man kann deshalb davon ausgehen, dass das Erdgeschoss einst als Schmiede genutzt wurde. Später war hier ein Stoff-, Lingerie- und Aussteuergeschäft untergebracht. Ein grossformatiges Werbeplakat der 1864 gegründeten Nähmaschinenfabrik Frister & Rossmann, welches die Bauforschung zwischen Deckenbalken fand, weist darauf hin.
Insgesamt weist das Haus eine beachtenswerte historische Bausubstanz auf. Vom mittelalterlichen Bohlenständerbau bis zu Gusseisenträgern aus dem 19. Jahrhundert überlagern sich vielfältige Strukturen und Elemente aus diversen Epochen. Bauspuren zeigen zudem, dass das Dach vor rund 200 Jahren um 90 Grad gedreht und das Erdgeschoss später zum See hin geöffnet wurde. Derlei Informationen, insbesondere Erkenntnisse über die Lastenverteilung des historischen Gebälks, waren für Architekt Wülser richtungsweisend für das weitere Vorgehen. Mit maximal wirkungsvollen und gezielten Eingriffen wurde die Gebäudestruktur gestärkt und das Haus als Einheit für die nächsten Jahrzehnte neu programmiert.
Ein Augenschein zeigt: Neue Bauteile wurden gekonnt dem Bestand angepasst und kontrastieren diesen an wenigen, bewusst gewählten Stellen. Zudem hat man das Gebäude brand- und schallschutzspezifisch erneuert, allerdings so, dass die ohnehin schon eher kleinen Räume kaum an Platz in Höhe und Breite einbüssten. Decken und Böden wurden, wo nötig, neu aufgebaut, Fenster stilgerecht ersetzt, Türen und Treppen neu aufgebaut. Einen grossen Mehrwert bringt das zusätzliche Oblicht, welches im Altstadthaus für Helligkeit sorgt. Eine zurückhaltende Auffrischung erfuhr auch die biedermeierlich geprägte Fassade. Die neu konzipierte Lukarne passt nun – im Gegensatz zur alten – perfekt zum Bauwerk und fügt sich wie selbstverständlich ins mit Ziegeln bedeckte Walmdach.
Beim Rückbau des Gebäudes stiess Architekt Wülser auf zahlreiche Bausünden, die das Haus insgesamt erfahren hat. «Vor allem in den späten 1980er-Jahren wurde die Liegenschaft ohne Gespür für den Wert der alten Substanz umgebaut, wobei bereits bestehende (statische) Defizite durch den Einbau neuer Treppen und Leitungen sogar noch verstärkt wurden», stellt Wülser mit einiger Verwunderung fest. Keineswegs sei es ihm beim aktuellen Umbau darum gegangen, das Haus in einen idealisierten historischen Zustand zurückzuversetzen, der nie existierte. Im Gegenteil: «Wir waren darum bemüht, mit zurückhaltenden Interventionen sinnvoll weiterzubauen und das Gebäude um passende, reversible Einbauten zu ergänzen, um es für die neuen Bewohnerinnen und Bewohner zeitgemäss nutzbar zu machen.» Was die Öffentlichkeit besonders freut: Im Erdgeschoss wird in Kürze ein Bistro eröffnet.
Die Sanierung wurde von der Zeitschrift Hochparterre im Jahre 2024 mit dem silbernen Hasen prämiert. Die Jury würdigte die «ungeheure Komplexität» des Projektes. Die getroffenen baulichen Massnahmen seien radikal erdacht, aber feinfühlig umgesetzt worden und beruhten auf «durchdachten Prinzipien». Entstanden sei kein Flickwerk, sondern eine kohärente und charakterstarke Architektur. Insgesamt spricht die Jury von einer mustergültigen Sanierung, die im Kontext der gegenwärtigen Umbaukultur durchaus weiter Schule machen dürfe.
Nicht weniger als 30 Umbauetappen von unterschiedlicher Qualität hat die Seestrasse 1 hinter sich. Doch erst die neueste bringt das Potenzial dieses Hauses meisterhaft zur Geltung. Ein gemaltes Sujet im unteren Drittel der Hausfassade sorgt als neckisches Detail für Heiterkeit: Zu sehen ist das Abbild einer Hauskatze, die ein ehemaliger Besitzer hier anbringen liess. Sie hat die Sanierung wohlbehalten überstanden und sitzt als «Trompe-l’œil» auf einem ebenfalls illusionistischen Fenstersims.