LUST UND LIEBE – KEIN TABU
Auch Menschen mit Behinderungen haben das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Liebe und Sex. Die Stiftung andante geht proaktiv mit diesen Themen um. Zentral ist eine offene und ehrliche Kommunikation.
Nähe ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Eine freundschaftliche Umarmung, eine tröstende Hand, ein verständnisvoller Blick, ein Kuss – das tut gut. Zuneigung stärkt das Vertrauen in andere und ist wichtig für das Selbstwertgefühl. Entwickeln sich aus der zwischenmenschlichen Nähe Liebe und Partnerschaft, geht daraus gar eine Familie mit Kindern hervor, bedeutet das für viele Menschen die Erfüllung eines Lebenstraums.
Welchen Stellenwert haben Themen wie Liebe, Erotik und Partnerschaft für Menschen mit einer kognitiven Einschränkung oder einer Hirnverletzung? Träumen sie auch von einer Beziehung, sind ihnen Zärtlichkeiten und Streicheleinheiten genauso wichtig wie Menschen ohne geistige Behinderung? Die Frage lässt sich pauschal nicht ohne Weiteres beantworten. Fest aber steht: Eine Institution wie die Stiftung andante muss und will sich diesen Themen stellen. «Wir werden automatisch damit konfrontiert und wollen dies nicht tabuisieren», so Geschäftsführer Thomas Diener. «Eine offene Haltung gegenüber Lust und Liebe ist zentral.» Das heißt nicht, dass man alle Wünsche erfüllen könne, jedoch versuche man, die Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen.
Viele der Klientinnen und Klienten sind plus/minus 30 Jahre alt und durchaus daran interessiert, mit anderen Männern und Frauen in Kontakt zu treten, zu flirten, zu kuscheln oder mehr. Manche verspüren Lust auf Sex. Werden diese Bedürfnisse gegenüber dem Team formuliert, versucht man, Hand zu bieten. «Es ist nicht an uns, Gefühle oder Bedürfnisse zu unterbinden, rigide Vorschriften zu erlassen oder Männer und Frauen voneinander fernzuhalten», betont Diener. Gleichzeitig stehe man als Institution in der Verantwortung. Wenn sich unter Klientinnen und Klienten eine Beziehung anbahne, sei dies grundsätzlich etwas Positives. Oftmals gehe dies mit einer Stärkung des Selbstvertrauens einher. Wichtig sei jedoch, dass Beziehungen auf Augenhöhe gestaltet würden und sich niemand zu etwas gedrängt fühle. Das braucht eine offene und ehrliche Kommunikation und viel Fingerspitzengefühl.
Es ist eine Gratwanderung: Einerseits gilt es, die Privatsphäre der Klientinnen und Klienten zu respektieren. Andererseits sind sie bei der Befriedigung sehr persönlicher oder intimer Bedürfnisse oftmals auf Support angewiesen, etwa bei der Beschaffung erotischer Hilfsmittel, bei der Teilnahme an Kontaktpartys oder der Registrierung auf spezialisierten Dating-Plattformen. Möchte jemand die Dienste einer professionellen Sexualbegleiterin oder eines Sexualassistenten in Anspruch nehmen oder hat Interesse an einer Massage, bietet andante – in Absprache mit den Angehörigen – Hand. Das Ausleben und Gestalten einer selbstbestimmten Sexualität ist – als Teilbereich der persönlichen Freiheit – ein geschütztes Grund- und Menschenrecht.
Solange Bedürfnisse und Zärtlichkeiten wie Küssen, Kuscheln, Händchenhalten im Fokus stehen – und bei vielen Betroffenen geht es primär darum, gibt es kaum Handlungsbedarf. Anspruchsvoller wird es, wenn eine Klientin etwa einen Kinderwunsch äußert. Da gilt es, genau hinzuhören und herauszufinden, wie groß die «Ernsthaftigkeit» des Wunsches ist. Viele Menschen mit Behinderung, so Diener, seien nicht in der Lage, abzuschätzen, was es heißt, elterliche Verantwortung zu übernehmen, und hätten ein Familienbild, das nichts mit der Realität zu tun habe. «Wenn sich aber eine junge Frau nach Kontakt zu einem Baby sehnt, können wir unter Umständen helfen», sagt Diener und berichtet von einer Klientin, der man es ermöglichte, regelmäßig eine Familie mit einem Baby zu besuchen. Die Fürsorge, die sie dem Baby gegenüber ausleben konnte, machte die junge Frau stolz und glücklich, zeigte ihr aber auch ihre persönlichen Grenzen auf.
Auch Angehörige sind gefordert, wenn ihre kognitiv beeinträchtigten Kinder, Brüder oder Schwestern in die Pubertät kommen und ihre Sexualität entdecken. Vielen macht die Phase der Adoleszenz auch etwas Angst, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Söhne und Töchter diesbezüglich unterstützen sollen. «Familienangehörige verdrängen das Thema oft», so Diener. Gleichzeitig sind sie besorgt, es könnte z.B. zu einer ungewollten Schwangerschaft kommen, wenn man nicht rechtzeitig informiert. Diese Sorgen sind für den andante-Geschäftsführer verständlich. Umso wichtiger sei es, dass es Fachleute gebe, die sich der Thematik annehmen. Denn heute bildet die Thematik, ganz im Gegensatz zu früher, als Sex und Behinderung sehr stiefmütterlich behandelt oder gar tabuisiert wurden, bei Behindertenorganisationen wie Pro Infirmis oder insieme einen selbstverständlichen Bestandteil der Beratung – ähnlich wie «barrierefreies Bauen» oder «leichte Sprache».
Um als Institution eine professionelle Haltung zu entwickeln, hat die Stiftung andante ein sexualagogisches Konzept erarbeitet. Es legt dar, wie das Betreuungsteam die Klientinnen und Klienten in ihrer sexuellen Entwicklung unterstützen und begleiten kann und welche präventiven Maßnahmen gegen sexuelle Übergriffe getroffen werden. Aufklärung ist ein wichtiges Thema und umfasst – je nach Alter und Entwicklungsstand der Klientin oder des Klienten – Aspekte wie Körperkunde, Hygiene, Verhütung, Selbstbefriedigung, Geschlechtskrankheiten und Sexualverkehr. Thematisiert werden aber auch der Aufbau und die Pflege von Freundschaften oder die Bedeutung und der Unterschied zwischen Kollegialität, Freundschaft und Partnerschaft. Weiter sollen die Klientinnen und Klienten wissen und lernen, dass sie «Nein» sagen können. Das Sex-Konzept ist integraler Bestandteil der Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende und kein Rohrkrepierer. «Es wird gelebt», betont Thomas Diener.
«Viele Angehörige sind dankbar und erleichtert, wenn sie hören, dass wir uns der Thematik stellen und auch da sind, wenn es anspruchsvolle oder vermeintlich peinliche Situationen zu regeln gilt», so Thomas Diener. «Wir spüren viel Vertrauen.» Auch sei ihm wichtig, in der Institution und ihren Teilbetrieben zwischen Angestellten, Klientinnen und Klienten ein «gesundes» Verhältnis von Nähe und Distanz aufzubauen. Da komme den Mitarbeitenden eine wichtige Vorbildfunktion zu. Klientinnen und Klienten sehen, dass gegen Berührungen wie etwa ein anerkennendes Klopfen auf die Schulter oder ein tröstendes Umarmen nichts einzuwenden ist, unerwünschte Annäherungsversuche und übergriffiges Reden und Handeln aber nicht akzeptiert werden. Das Ziel ist, eine «professionelle Nähe» zu den Bewohnerinnen und Bewohnern aufzubauen, nicht eine «private Distanz». Dieses empathische Betriebsklima hilft Betroffenen auch bei der Reflexion ihrer eigenen Emotionen und Sehnsüchte.