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Zuger Woche

ZUSAMMENARBEIT

Beratungsstelle für Landesgeschichte (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

23.11.2022

«FüRSORGEN, VORSORGEN, VERSORGEN»

 

Der von der Zuger Regierung in Auftrag gegebene Forschungsbericht über die historische Aufarbeitung der sozialen Fürsorge im Kanton Zug liegt vor. Er analysiert das Fürsorgewesen von 1850 bis 1981, mit Ausblicken bis heute, und trägt den Titel «Fürsorgen,vorsorgen, versorgen». Die Publikation wurde von der Beratungsstelle für Landesgeschichte (BLG) in Zürich unter der Leitung von Dr. Thomas Meier realisiert und unlängst den Medien vorgestellt.

 

Als der Bundesrat im Jahr 2014 eine unabhängige Expertenkommission einsetzte, um die Geschichte der administrativen Versorgung zu untersuchen, war für den Kanton Zug klar, dass auch er sich in geeigneter Form der Thematik stellen will. Dies allein schon aus Respekt gegenüber Betroffenen oder deren Nachkommen, aber auch, um die gesellschaftlichen Hintergründe rund um die «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» auszuleuchten und eine bestehende Forschungslücke zu schliessen. «Es ist viel Unrecht geschehen. Menschen haben leidvolle Erfahrungen gemacht, die ihre Biografie geprägt haben. Das wollen wir anerkennen», betonte Regierungsrat Hostettler an der heutigen Medienkonferenz. Der Rückblick sei nötig. «Es geht nicht um Anprangern, sondern um Aufklärung. Auch wollen wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen.»


Anfängliche Vorbehalte und lange Vorgeschichte
Die Publikation thematisiert nebst den Zwangsmassnahmen und administrativen Versorgungen die Gesamtheit der Anordnungen und Angebote für Menschen in Notlagen beziehungsweise in Situationen, die als prekär eingestuft wurden. Dazu zählten materielle Unterstützungs- und Versicherungsleistungen ebenso wie Beratungsangebote und Vermittlungsdienste sowie ambulante und stationäre Betreuungen auf freiwilliger oder behördlich verordneter Basis. Hostettler erinnerte an die lange Vorgeschichte des Forschungsberichtes und die starken Vorbehalte und das Unbehagen, welches das Forschungsprojekt anfänglich in vielen Kreisen auslöste, weshalb die Direktion des Innern eine Begleitgruppe einsetzte. Dieser gehören Vertretungen der Opferberatung «eff-zett», der Zuger Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), der Beratungsstelle «Triangel», der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Zug (GGZ), der Einwohner-, Bürger- und Kirchgemeinden sowie die Historikerin Gisela Hürlimann an. Einige Mitglieder waren an der Medienkonferenz vertreten.


Innovativer und ambitiöser Forschungsansatz
Thomas Meier betonte die bewusst breite Herangehensweise an die Thematik der sozialen Fürsorge, die sowohl in die Tiefe wie in die Breite gehe. «Dieser Ansatz dokumentiert den Versuch, soziale Fürsorge als komplexes, sich im Verlauf von 170 Jahren veränderndes Dispositiv von Nachfrage und Angebot, Akteuren und Handlungen und sich ändernden Vorstellungen von Recht, Sitte und Moral zu fassen.» Dabei habe man auf keine methodischen Vorbilder zurückgreifen können, was das Vorhaben gleichermassen innovativ wie ambitiös mache. Meiers Team war interdisziplinär zusammengesetzt aus der Philosophin und Juristin Birgit Christensen sowie den Historikerinnen Martina Akermann, Sabine Jenzer, Judith Kälin und Valérie Bürgy. Das Staatsarchiv des Kantons Zug zeichnete für die wissenschaftliche und archivseitige Begleitung des Forschungsprojekts verantwortlich.


Leidensgeschichten von Betroffenen
Eine besondere Qualität erhält der Bericht, indem er gleich im ersten Kapitel in 18 biografischen Texten Betroffene zu Wort kommen lässt: Menschen, die von Fürsorgemassnahmen direkt betroffen waren, und solche, die einst im Fürsorgewesen tätig waren. Erstere erzählen von teils erschütternden Erlebnissen, individuellen Schicksalen, schwierigen Lebensumständen, finanzieller Not, von Geringschätzung, Abwertung, Demütigung und emotionaler Kälte. Anderen, ebenso lebensnahen Schilderungen entnimmt man positive Erfahrungen mit liebevollen Bezugspersonen und sorgenfreien Momenten in Ferien-, Lehrlings- und Erholungsheimen, bei Pflegefamilien oder Bauern. Insgesamt zeichnet der Bericht somit ein breites und differenziertes Bild. Meier erläuterte: «Es gab auch die empathischen, fürsorglichen Fachleute und Laien, die sich in Heimen und Spitälern oder im Armen- und Vormundschaftswesen engagierten – aber teilweise schlicht überfordert waren.» Beschrieben werden – aufgrund von Zeugenaussagen und Archivunterlagen – Arbeitsbedingungen, die heute schlicht nicht mehr vorstellbar wären: überlange Arbeitszeiten, keinerlei Vorbereitung auf schwierige Aufgaben, schlechte Entlöhnung und Gebäulichkeiten mit schlechten Platzverhältnissen, prekäre Unterbringung und Verköstigung, gepaart mit mangelnder Hygiene.


Krank, arbeitslos, verwaist, von der Norm abweichend
Weitere Kapitel sind den rechtlichen Grundlagen mit Gesetzen und Verordnungen, den Sozialversicherungen, den verschiedenen Massnahmen, den Strukturen, Trägerschaften und Leistungserbringern des Sozial- und Gesundheitswesens sowie karitativen Aktionen gewidmet. Anschaulich und detailliert wird aufgezeichnet, mit welchen Problemen sich Bürgerräte, Beamte, Ärzte oder Fürsorgerinnen auf Ämtern, in Sozialdiensten oder in der privaten Fürsorge von Kirchen und kirchlichen Vereinen tagtäglich konfrontiert sahen und wie sie ihre «Fälle» bearbeiteten. Dies konnten Menschen sein, die verwaist, krank, arbeitslos, alt, fremd, physisch, psychisch oder kognitiv beeinträchtigt und deswegen in eine existenzielle Notlage geraten waren oder in ihrem Verhalten schlicht von der allgemein akzeptierten Norm abwichen. 

 

Im Spannungsfeld von Hilfe und Zwang
Als charakteristisch für die Zuger «Anstaltslandschaft» bezeichnete Meier an der Medienkonferenz die vielen Erholungsheime und Sanatorien, die sich vor allem im Ägerital konzentrierten. «Der Kanton beschränkte sich praktisch auf Aufsichtsfunktionen und betrieb kaum eigene Einrichtungen. Das wurde den Gemeinden bzw. hauptsächlich Privaten überlassen, wobei die Frauen überproportional engagiert waren. Sie alle bewegten sich im Spannungsfeld von Hilfe und Zwang.» Besonders stark war im Kanton Zug die konfessionelle Prägung der sozialen Fürsorge. Fast das gesamte Personal wurde von katholischen Kongregationen gestellt . Diese bildeten die eingesetzten Leute nach Gutdünken und teils nur rudimentär aus. Auf Gemeindeebene herrschte «kommunaler Dualismus» zwischen Einwohner- und Bürgergemeinde, wobei letzterer eine Bedeutung wie nirgends in der Schweiz zukam. Ausgeprägt war im Kanton Zug seit je das lokale kirchliche und zivilgesellschaftliche bzw. gemeinnützige Element.


Multifunktionale «Asyle» als Auffangbecken
Meier nennt eine weitere Erkenntnis: Trotz dem allgemeinen Trend der Ausdifferenzierung der Heim- und Anstaltslandschaft hielten sich in Zug multifunktionale Einrichtungen sehr lange. Als Beispiele angeführt werden im Bericht zum einen das Steinhauser Armenhaus, in dem bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nebst Erwachsenen auch Kinder lebten und in dem sogar die Primarschule eingerichtet war. Zum anderen gab es die multifunktionalen Asyle in Baar und Cham, die sich zwar zu Landspitälern entwickelten, gleichzeitig aber weiterhin auch als Altersheime und Armenhäuser dienten. Im Unterschied zu den benachbarten Kantonen gab es in Zug dagegen nie eine Anstalt für «schwererziehbare» Jugendliche oder für administrativ versorgte Erwachsene. Diese platzierten die Gemeinden und der Kanton in ausserkantonalen Anstalten oder im kantonalen Gefängnis.


Thematik jüngeren Generationen zugänglich machen
Abschliessend dankte Regierungsrat Hostettler allen, die sich der anspruchsvollen und delikaten Herausforderung der Aufarbeitung gestellt und mit ihrem Engagement – sei es finanzieller oder ideeller Natur – zum Gelingen des qualitativ hochstehenden Resultats beigetragen haben. «Mit dem Bericht sind die Voraussetzungen geschaffen, dass dieses Thema auf der politischen Agenda bleibt und in der Öffentlichkeit auch künftig diskutiert, jüngeren Generationen zugänglich gemacht und somit im weitesten Sinn von der ganzen Gesellschaft verarbeitet werden kann.» Die aus der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse sind auch für die heutige und künftige «Fürsorgelandschaft» von Relevanz.