PUBLIKATION

Denkmaljournal / CH Media

ZUSAMMENARBEIT

Regine Giesecke (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

4.4.2022

WIRKEN IM INDUSTRIEWAHRZEICHEN

 

Getreidemühle, Speisefettfabrik und seit 2002 Wirkungsort für kreative Selbstständige, Dienstleister und Firmen aller Art. Die Untermüli in Zug ist dank einem denkmalaffinen Eigentümer bestens in Schuss und bei der Mieterschaft aus mehreren Gründen sehr beliebt.

 

Es gibt Leute, die behaupten, in der Untermüli Zug werde gar nicht gearbeitet, sondern Party gemacht, für Konzertauftritte geprobt, auf der Rampe Ping-Pong gespielt, Würste grilliert und Prosecco getrunken. Richtig ist: Auf dem Areal des stattlichen, ehemaligen Fabrikgebäudes – erstellt im Stil der norddeutschen Backsteingotik – herrscht ein ganz besonderes Ambiente. IT-Fachleute, Architekten, Grafiker, Treuhänder, Soloselbstständige aus Kultur, Kommunikation, Marketing und Medien gehen hier zwar durchaus fleissig ihrer professionellen Beschäftigung nach, nutzen das grosszügige Areal und die preiswert vermieteten Räume aber auch für gesellige Momente. Ein Glückspilz, wer hier arbeiten, netzwerken und zwischendurch – warum auch nicht? – geniessen darf.

 

Was für ein Anblick, wenn man von der Baarerstrasse auf das Areal abbiegt und unverhofft den grosszügigen Vorplatz erreicht. Ein Traum von einer Liegenschaft offenbart sich da, und man staunt. Historische Gusseisenfenster, anmutige Treppengiebel, elegante Gebäudekanten, dekorative Elemente aus Sichtbackstein, imposante Dachflächen aus Kupfer und Ziegel stechen ins Auge. Die weisse Putzfassade wirkt frisch, das rustikale Sockelgeschoss kraftvoll und standhaft. Eine grosszügige Rampe verbindet die verschiedenen Gebäudeteile, via verzinkter Aussentreppe gelangt man in die Obergeschosse. Rundfenster lockern das strenge Erscheinungsbild auf. Ebenso erwähnenswert: Seit der ehemalige Getreidetrakt – die Untermüli 1 und 3 – im Jahre 2019 einer umfassenden Sanierung unterzogen wurde, ist auch das von einem Sturm in Mitleidenschaft gezogene Dach wieder dicht und weisen die Büros ein deutlich besseres Raumklima auf. Die kunterbunte Mieterschaft, die die Radiatoren zuvor im Winter voll aufdrehen musste, im Sommer in den Büros aber zu verschmachten drohte, weiss es zu schätzen.

 

Zur Erinnerung: Erstellt wurde der L-förmige Baukörper 1897/98 und diente zunächst als Getreidemühle. Als die Mehlproduktion 1929 gestoppt wurde, transformierte sich das Ensemble zur Produktionsstätte von Margarine, Speisefett und Frittieröl. Noch bis zum Jahre 2002 hat man hier das berühmte «Orris Speisefett» hergestellt, in den besten Zeiten 18 bis 20 Tonnen pro Tag; für Bäckereien, Konditoreien, Gastronomie und Industrie. An dieses Kapitel erinnert bis heute ein riesiges Becken aus Stahl, in welchem einst das Fett gekocht wurde und an dem für die Mieter des linken Flügels kein Vorbeikommen ist. Wie ein Mahnmal steht es da. Hier wurde tatsächlich nicht nur Architektur-, sondern auch Technik- und Wirtschaftsgeschichte geschrieben; einer der Gründe, warum der Kanton 2002 die Unterschutzstellung verfügte.

 

«Die Untermühle ist ein ausserordentliches Beispiel von Fabrikarchitektur in Historismus», heisst es in der Begründung. Dank der dominanten Lage an der Bahnlinie stelle sie ein veritables Wahrzeichen von Zug dar. Was den Wert dieses Denkmals ausmacht, ist aber bei Weitem nicht nur dessen spannende und wichtige Vergangenheit, sondern es sind dies vor allem auch die Chancen, welche die aussergewöhnlichen Räumlichkeiten vielen innovativen Privatunternehmern im Hier und Jetzt bieten. Joe Steiner ist so ein Repräsentant. 2003 hat er sich hier mit seinem Start-up Fun-Care AG eingemietet und sein Business mit aufblasbaren Sport- und Freizeitgeräten aufgebaut. 300 Quadratmeter gross sind seine durch viel Lichteinfall erhellten Büroflächen, wo ein junges Team die qualitativ hochwertigen Artikel bewirbt, vermarktet und vertreibt. Hinzu kommen weitere 320 Quadratmeter Lagerfläche zwei Stöcke höher, wo Snow-Bodyboards, Stand-Up-Paddles, Smartkats und Lounge Seats lagern. Dass der alte Fabrikbau mit zwei Warenliften und einer grossflächigen Rampe ausgestattet ist, kommt dem Geschäftsmann immer dann zugute, wenn Ware an- oder ausgeliefert wird. «Ohne die Location der Untermüli und die sehr fairen Mietkonditionen hätte sich mein Business nicht so erfolgreich entwickeln können. Zudem weht in den Gemäuern ein kreativer Geist, den man in 08/15-Häusern nicht vorfindet», sagt Steiner. Insofern sei die Untermüli massgeblich am Erfolg seines Geschäfts beteiligt.

 

Dass die Untermüli so gut in Schuss ist, hat vor allem mit einem Mann zu tun, der stets wenig Aufhebens um sein Engagement machte, nie den grossen Auftritt suchte, aber Worten Taten folgen liess: Hans Voorgang, Nachkomme einer aus Holland stammenden Familie und – bis zu seinem Tod im Februar 2022 – Eigentümer der Untermüli; ein Mann mit Sinn für Historie und Interesse an Architektur, der die Liegenschaft in eine Stiftung überführen liess.

 

Durch die Instandhaltung seiner im Unterhalt anspruchsvollen und aufwendigen Liegenschaft leistete er bewusst einen Beitrag zur Zuger Baukultur und bot zahlreichen Mietern günstigen Büro- und Gewerberaum auf Stadtzuger Boden. Was die geglückte Sanierung und Erneuerung von Fassade, Dach und Fenstern des Getreidetrakts angeht, so war Hans Voorgang mit viel Engagement bei der Sache. «Er gab sich nicht damit zufrieden, von Fachleuten mit Informationen versorgt zu werden, sondern kam mit Vorschlägen und diskutierte bei der Umsetzung von baulichen Massnahmen engagiert mit», erinnert sich Bauberaterin Nathalie Wey von der Zuger Denkmalpflege.

 

Wie anfangs kurz erwähnt: Ausschlag für die Sanierung des Südtrakts im Jahr 2019 gab das durch einen Sturm in Mitleidenschaft gezogene, undichte Eternitdach im ehemaligen Getreidetrakt. Dieses wurde neu wieder mit Kupfer eingedeckt. Zudem hat man den sehr schönen, aus der Bauzeit stammenden, aber leider auch undichten Gusseisenfenstern gegen innen grossflächige Flügelfenster vorgesetzt, um die Energiebilanz des Gebäudes zu verbessern und die Beheizung der Büros zu optimieren.  Kraftvoll erstrahlt seit der Sanierung auch die aufgefrischte Putzfassade mit den grau gestrichenen Ecklisenen – farblich abgehobene, vertikal verlaufende Dekorationselemente. Sie schaffen eine wirkungsvolle Verbindung zwischen Backsteinmauerwerk und Natursteinsockel und entsprechen nun weitestgehend dem Originalzustand.

 

Weitestgehend? Nathalie Wey klärt auf: «Auf die Rekonstruktion der Fugenstriche, die es ursprünglich gab, wurde verzichtet. Das wäre schlicht zu aufwendig und zu teuer gewesen und hätte nicht massgebend zu einem besseren Erscheinungsbild beigetragen.» Pragmatismus war gefragt. Keine Kompromisse ging man bei der Ersatzbeschaffung der blauen und weissen Ziegel ein, welche in rund 20 Metern Höhe die Zinnen der Treppengiebel zieren. Sie befanden sich teilweise in einem desolaten Zustand und mussten ersetzt werden. Weil blau und weiss glasierte Biberschwanzziegel, notabene in den echten Zugerfarben, nun aber nicht im Standardangebot von Produzenten zu finden sind, wurden sie extra für das Industriedenkmal hergestellt und bilden nun Richtung Himmel einen äusserst aparten Abschluss.

 

Von der Fassade verschwunden hingegen sind die drei alten blau-gelben Emailschilder mit der Aufschrift «Orris Speisefett». Nathalie Wey versuchte, den Eigentümer noch davon zu überzeugen, die Tafeln nach der Sanierung wieder am Gemäuer befestigen zu lassen. Hans Voorgang aber liess es bleiben. Er zog es vor, die historischen Tafeln in einem Keller aufzubewahren. «Die Ära Orris ist vorbei. Die Untermüli soll jetzt in die Zukunft blicken», so die Begründung. Da hatte der sympathische und gar nicht sentimentale Senior auch wieder recht.

 

ENDE LAUFTEXT

 

Das Denkmal in Kürze

 

Der Bau der Untermüli erfolgte, kurz nachdem 1897 die neue Eisenbahnlinie Zürich–Thalwil–Zug–Arth-Goldau in Betrieb genommen worden war. Die Initiative dazu ergriff der Zuger Müllermeister und Unternehmer Johann Michael Stadlin. Es war schweizweit die zweite vollautomatische Handelsmühle. 1913–1915 ergänzten eine Trafostation und eine Werkstatt die Anlage. 1918 folgte die Verlängerung des Mehlmagazins durch die Architekten Dagobert Keiser und Richard Bracher. 1929 wurde die Mehlproduktion gestoppt. Fortan produzierte die Orris AG im heutigen Industriedenkmal Speisefett; pro Tag zwischen 18 und 20 Tonnen.