PUBLIKATION

Zuger Neujahrsblatt

ZUSAMMENARBEIT

Alexandra Wey (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

26.11.2019

TROTZ ALLEM AUF ERKUNDUNGSTOUR

 

Ohne Begleitung oder technische Hilfsmittel könnte Melchior Hartmann weder stehen noch gehen. Und doch ist der Zehnjährige mit der Zerebralparese immer irgendwie in Bewegung.

 

Seine Mutter Carla hat ihn soeben aus dem Autositz gehoben, aufrecht vor sich hin positioniert und führt ihn nun mit einem leichten Schieben langsam Richtung Eingang der Kinderphysiotherapie im Göbli-Quartier. Melchiors Unterschenkel stecken in zwei farbigen, speziell  für ihn angefertigten Orthesen, seine Füsse in dazu  passenden Turnschuhen, die etwas klobig aussehen, aber den nötigen Halt bieten. Langsam setzt er einen Fuss vor den anderen, stets nah an der Mutter, die hinter ihm geht und ihm unter die Arme greift, bis der Praxiseingang erreicht ist. Hier wartet auch schon Physiotherapeutin Trix, die Melchior fast seit seiner Geburt kennt und seither regelmässig für Therapiestunden empfängt.


Melchior kam mit einer Zerebralparese zur Welt und ist aufgrund eines Gendefekts sowohl körperlich wie geistig stark behindert. Ohne Begleitung oder technische Hilfsmittel könnte er weder stehen noch gehen. Und doch ist er immer irgendwie in Bewegung und scheint die Herausforderung, welche die Physiotherapie für ihn bereithält, zu geniessen. Sie kommt für ihn, der zwangsläufig viel sitzt und liegt, einer willkommenen Abwechslung gleich. «Die Ärzte haben mir, seit die Diagnose klar war, immer viel davon erzählt, was Melchior alles nicht kann und nie können wird. In den Therapiestunden, aber auch für uns als Familie liegt der Fokus darauf, welche Kapazitäten mein Sohn punkto Beweglichkeit mitbringt», sagt seine Mutter. Melchior kann aufrecht und mit einer ungemeinen Ausdauer sitzend auf dem Boden spielen. Er kann sich aus der Rückenlage alleine in die Sitzposition hochbringen. Und wie erst haben seine Eltern und beiden Brüder gestaunt, als sie bemerkten, wie es Melchior im Alter von sieben Jahren erstmals schaffte, sich mit Hilfe seiner Gesäss- und Beinmuskulatur sitzend vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer zu schieben! Mit dieser ihm eigenen Fortbewegungsmethode ist Melchior gut und gerne im Stande, Erkundungstouren von mehreren Hundert Metern pro Tag zurückzulegen. Im Wohnheim, wo er tageweise betreut wird, steht ihm zusätzlich ein sogenannter «Innowalk» zur Verfügung: ein richtungsweisender Steh- und Bewegungstrainer, mit dem die passiv eingeleitete Bewegung in aufrechter Position zu einer reaktiven Ausgleichsbewegung führt.


Während gesunde Menschen im Alltag auf sämtliche körpereigenen Funktionen zum Aufrichten und für die Fortbewegung automatisch und unbewusst zugreifen können, sind Menschen mit einer angeborenen zerebralen Behinderung beziehungsweise der Schädigung des Zentralen Nervensystems stark limitiert. Ihnen stehen die angeborenen Bewegungsmuster zum Greifen und Hantieren, zum Umdrehen und Aufstehen, Gehen und Laufen nur eingeschränkt zur Verfügung. Denn bei ihnen kann das Gehirn seine Funktion als Schaltzentrale, welche die Befehle an den Bewegungsapparat sendet, nicht richtig ausüben. Melchiors Muskeln sind ausserdem nur schwach ausgebildet. Und das Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung funktioniert bei ihm nicht wie bei Menschen ohne Behinderung.


Das Ziel von Melchiors Physiotherapie besteht nicht darin, dereinst intakte Bewegungsabläufe zu erlangen, sondern elementare Bewegungsmuster zumindest in Teilbereichen zugänglich zu machen. Das regelmässige Training soll auch helfen, drohenden Körperhaltungsschäden vorzubeugen und dafür zu sorgen, dass sich Fehlstellungen und -belastungen an Beinen, Füssen und Armen nicht akzentuieren. Während der 45-minütigen Einheit werden Melchiors Gliedmassen intensiv massiert und durchgeknetet. Dies fördert auch die Durchblutung. Die Therapeutin kennt Melchiors Bewegungsapparat genau und beobachtet, wie er sich aus für ihn misslichen Lagen «befreit». Dabei orientiert sie sich an der sogenannten Vojta-Therapie, einer Behandlungsmethode, die bei Störungen des zentralen Nervensystems, aber auch bei MS-Patienten zur Anwendung gelangt. Sie wurde vom tschechischen Kinderneurologen Vaclav Vojta in den 1960er Jahren entwickelt. Aus Bauch-, Rücken- und Seitenlage heraus werden durch den Druck auf bestimmte Triggerpunkte gezielt Reflexe ausgelöst. «Die Physiotherapie tut ihm gut», fasst Carla Cerletti zusammen. «Aber konkrete Erwartungen, wie Melchior sich punkto Bewegung und Koordination langfristig weiterentwickelt, haben wir nicht. Wir freuen uns einfach, wenn wir sehen, dass er kleine Fortschritte macht.»