PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

24.7.2008

EIN EILAND VOLLER TROUVAILLEN

 

Wie, wenn nicht bei einer Vespa-Panne, lernt man Land und Leute kennen? Dass dieser Sachverhalt besonders auf der südkaribischen Insel Grenada zutrifft, erfahren wir bei einer Inselumrundung intensiver und auch früher, als uns lieb ist.

 

Mit unserer flotten, wenn auch nicht mehr ganz neuen Vespa starten wir in Grenadas Hauptstadt zur Umrundung dieser 344 Quadratkilometer grossen Insel. St. George's, ein ausnehmend malerisches, unter den Franzosen erbautes Städtchen, ist uns mit seiner lebhaften, mitunter etwas gar übermütigen Architektur auf Anhieb sympathisch. Abgesehen vom fehlenden Dach der Stadtkirche erinnert nichts mehr an Hurrikan «Ivan», der die Insel 2004 schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Strassen und Trottoirs sind verstopft mit Leuten, die offensichtlich alle zum Frischwarenmarkt im Carenage-Quartier pilgern. Papayas, Avocados und Kokosnüsse gibt es zuhauf für ein paar karibische Dollars. In der Luft liegt aber vor allem der Duft des wichtigsten Exportguts der Gewürzinsel: der Muskatnuss, die auf vielfältige Weise verarbeitet wird, zu Sirup, Marmelade oder zu pikanter Rahmglace.


Wir folgen den Serpentinen der Küstenstrasse, die sich durch extreme Steigungen charakterisiert, fahren weiter ins Landesinnere Richtung Constantine, und schon nach wenigen Metern auf der immer steiler werdenden Passstrasse passiert es: Der Roller bleibt stehen. Nichts geht mehr. Die Diagnose ist schnell gestellt. Das Gaskabel ist gerissen. Zufälligerweise scheinen in diesem Dorf mit dem schönen Namen Beaulieu zahlreiche Experten für Motorradpannen zu wohnen. Bereits nach fünf Minuten hat sich eine Gruppe Einheimischer um das defekte Fahrzeug versammelt, und jeder versichert inbrünstig: «I'm a specialist! Let me help you!»


Die jungen Männer sind voll Tatendrang und wild entschlossen, den sonnengebräunten Touristen zu helfen. Wäre da nur nicht der betrunkene Mittfünfziger im flatternden Batikhemd, der ständig dazwischenfunkt und seine Reparatur-Vorschläge mit wildem Klopfen auf die Schultern meines Begleiters bekundet. Ein neues Bremskabel lässt sich erst nach eineinhalb Stunden auftreiben, doch dann - die Mittagssonne brennt seit geraumer Zeit erbarmungslos - ist der Schaden endlich behoben. Unser Trinkgeld wird von den Hobby-Mechanikern sofort gegen eine Runde Carib - das karibische Nationalbier - in der Dorfbar eingelöst. Hupend fahren wir, unseren Helfern fröhlich winkend, vorbei an Mahagoni- Riesen, Frangipani-Bäumen und an Zimt-, Vanille- oder Bananenplantagen. Unser Ziel ist der Nationalpark Grand Etang mit dem gleichnamigen Kratersee.


Auf der Passhöhe angekommen, entscheiden wir uns spontan für eine Tour auf den Gipfel des Mount Qua Qua und wandern durch den saftiggrünen, mit viel Bambus bewachsenen Regenwald, der vor Üppigkeit strotzt. Wir entdecken Leguane und Geckos und sind hingerissen von der Vielfalt der Pflanzen. Dem Bergrücken entlang marschierend, passieren wir purpurrote Orchideen und hellgelbe Goldtrompeten, Kakao-, Mango- und unzählige Brotfruchtbäume. Schmetterlinge gaukeln in rastlosem Zickzackkurs durchs Geäst. Nach einer guten Stunde erreichen wir auf 720 Metern über Meer den höchsten Punkt und geniessen den überwältigenden Blick von der Süd- bis zur Nordküste Grenadas.


Die nächste Station heisst Sauteurs, womit wir bei der nördlichsten Stadt Grenadas angelangt sind, deren Namen auf eine tragische Gegebenheit zu Zeiten der Kolonisierung zurückgeht. Im Kampf gegen die übermächtigen Franzosen, die Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Besitzansprüche geltend machten und die Versklavung vorantrieben, sahen sich die Kariben immer mehr gegen den Norden gedrängt. Die Franzosen im Nacken, beschlossen sie 1653, statt sich zu unterwerfen, gemeinsam von der 40 Meter hohen Felsklippe in den Tod zu springen. So stehen wir auf dem Friedhof der katholischen St.-Patricks-Kirche und vergegenwärtigen uns das tragische Schicksal, an das auch ein vom Winde verwittertes Denkmal aus Stein erinnert.


Unterkunft sucht man in Sauteurs vergeblich. Dafür werden wir etwa einen Kilometer ausserhalb fündig, in einer schlichten Bungalow-Siedlung mit dem Namen «Almost Paradise». Ein «Schwumm» in den offenen und eindrücklich hohen Wellen des nahen Strandes und ein Nachtessen im Restaurant der gesprächigen Bungalow- Besitzer runden den Abend ab: Das mit Okraschoten garnierte Poulet im Reis, zubereitet vom deutschen Koch Uwe und serviert von seiner kanadischen Frau Kate, schmeckt, mit phantastischer Aussicht auf die Silhouetten der vorgelagerten Inselchen, einfach super.


Mit vollem Tank geht es am nächsten Morgen Richtung Grenville. Die Vespa gibt zu keinerlei Beanstandungen Anlass und nimmt die Kurven und Steigungen der an Schlaglöchern durchaus reichen Küstenstrasse tapfer. Auf eine Führung in der River Antoine Rum Distillery, die inmitten herrlicher Zuckerrohrfelder liegt, verzichten wir, obwohl sie (1785 errichtet) zu den ältesten Rumbrennereien der karibischen Inselwelt gehört. Stattdessen gönnen wir uns nach einstündiger Fahrt einen frischgepressten «sugar cane juice» an einer kleinen Saftbar in Grenville. Nicht zu süss, schmeckt das hellgrüne Getränk auf diskrete Art und Weise bekömmlich. In den vielen kleinen Boutiquen im Zentrum des Städtchens wimmelt es von Leuten. Aus purer Neugierde stürzen wir uns ebenfalls in das Getümmel, tun uns aber schwer, zwischen Putzlappen, Kerzenständern, WC-Schüsseln und Vorhängen etwas Brauchbares zu finden. Schalten wir lieber noch einen Zwischenstopp in La Sagesse ein. Diese den Gezeiten ausgesetzte Mangrovenbucht liegt nämlich genau auf unserer Strecke, bietet einen menschenleeren Strand, ein interessantes Korallenriff und einen einzigartigen Kaktuswald, der von Dornengestrüpp durchzogen ist.


Es ist bereits dunkel, als wir unser Endziel erreicht haben: die von unseren Schweizer Freunden betriebene Marina Le Phare Bleu. Das zu einem Restaurant umfunktionierte Leuchtturm- Schiff «Västra Banken», auf dem uns ein hervorragendes Menu serviert wird, hat sich in der Segelbranche innert kürzester Zeit zu Recht einen erstklassigen Ruf erworben. Übernachten dürfen wir im Gästezimmer des historischen und mit viel Stil und Liebe renovierten Schiffes. Sanfte Wellen schaukeln uns in den Schlaf.