PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

6.10.2014

ANLEITUNG ZUM ATMEN

 

Automatisch atmen? Das war einmal. Die Atemtherapie bietet Hilfe bei der achtsamen Atmung. Bald soll die Methode eidgenössisch anerkannt werden.

 

Der Begriff der Ganzheitlichkeit ist immer dann zur Stelle, wenn etwas umschrieben wird, das einer besonders umfassenden Betrachtungsweise bedarf. So ist das auch beim Atmen. Mit dem Hinweis, dass der Mensch – je nach Sauerstoffbedarf – pro Tag 20‘000 bis 26‘000 Atemzüge macht, geben sich jedenfalls längst nicht mehr alle Menschen zu frieden. Die Atmung, so hört man in letzter Zeit immer öfter, sei nicht bloss Teil des vegetativen Nervensystems, sondern ein hochsensibler Seismograph für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden, der grösster Aufmerksamkeit bedürfe.

 

Und zwar nicht bloss dann, wenn uns das Fitnessprogramm Seitenstechen beschert und sich Sängerinnen der Stimmbildung widmen. Die „ganzheitliche“ beziehungsweise „achtsame“ Atmung“ wird zunehmend in Kursen gelernt unter fachkundiger Anleitung von so genannten Atemtherapeuten und Atempädagogen, einer relativ neuen Berufsgattung, die sich auf dem weiten Feld alternativer Therapiemethoden ein Tätigkeitsfeld erobert hat. Sie schwört auf die „Kraft des Atmens“, die Verspannungen und Beschwerden aller Art löst, den Weg aus Erschöpfungs- und Angstzuständen zeigt, die innere Harmonie (wieder-)herstellt. Als Zielpublikum im Fokus steht gemäss Angaben des Atemfachverbands Schweiz (AFS) nicht der im klassischen Sinne kranke Mensch, sondern eine Klientel, die mit Hilfe von „atemspezifischen Interventionen“ innere Blockaden lösen möchte.

 

Die Branche, die sonst in Kleinpraxen eher im Stillen wirkt, tritt am 15. November 2014 an die breite Öffentlichkeit. Dann findet, bereits zum dritten Mal, die Schweizerische Fachtagung „ATEM Ausblicke“ statt. Voraussichtlich rund 90 Atemtherapeutinnen treffen sich, fernab von Hektik und Alltagsstress, mit Blick auf Zürichsee und Glarner Alpen, im auf Spiritualität bedachten Tagungszentrum Boldern bei Männedorf. Im Zentrum der Tagung steht die Frage, welche Zusammenhänge zwischen Burnout und Atmung bestehen, beziehungsweise, wie sich durch „taktile Atemarbeit“ ersteres verhindern lässt. Erklärtes Ziel des Organisationskomitees ist es, ein breites Publikum für die Thematik zu sensibilisieren und potentielle Kundinnen und Kunden zu gewinnen. Gut zu wissen: viele Krankenkassen übernehmen Therapiekosten bei entsprechender Zusatzversicherung im Bereich „Komplementär“. Je nach Deckungsgrad werden zwischen 70 und 90 % zurückerstattet. Voraussetzung: der Therapeut muss entweder im Erfahrungsmedizinischen Register EMR oder bei der Schweizerischen Stiftung für Komplementärmedizin (ASCA) registriert sein.

 

Letztere vergibt nicht nur entsprechende Gütesiegel, sondern hat auch den Überblick über die gegenwärtig schweizweit praktizierenden 400 Atemtherapeutinnen, wobei die weibliche Form hierbei durchaus angebracht ist. Denn die Atemtherapie ist mit einem Anteil von 96 % fest in Frauenhand. Dies hänge, mutmassen die Fachverbände, mit typisch weiblichen Qualitäten zusammen, die bei dieser Tätigkeit gefragt sind: Geduld, Einfühlungsvermögen und keine Hemmungen vor Körperkontakt.

 

Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet ein Mann den populärsten Atemexperte stellt: Alain Sutter. Der ehemalige Profifussballer und Autor des Buches „Stressfrei glücklich sein“ hat sich als Coach unter anderem der „meditativen Komponente des Atems“ verschrieben und nutzt die Körperarbeit gemäss eigenen Aussagen, „um tiefliegende Themen spürbar zu machen“ und „Spannungsmuster in unserer Atmung zu lösen.“ Der ehemalige Fussballstürmer ist überzeugt, dass die Atmung „ein untrüglicher Indikator für unseren inneren Zustand“ ist. Er schreckt auch nicht vor Erklärungen aus dem Medizinfach zurück und fachsimpelt auf seiner Website über die „respiratorische Sinusarrhythmie“ und die „Spannungsposition des Zwerchfells“.

 

Unter den Schulmedizinern nimmt man das steigende Interesse an nicht medizinisch verordneten Atemtherapien gelassen zur Kenntnis und interpretiert es als eine Art Wohlstandserscheinung. „Die Leute haben heutzutage viel Zeit und Musse, sich ihrem Körper zu widmen und gönnen sich zwischendurch gerne ein paar Streicheleinheiten“, so der Facharzt und Allergologe Paul Scheidegger, der in seiner Praxis unter anderem auch Asthmapatienten behandelt. „Atemtherapeutinnen schenken ihrer Klientel bestimmt viel Aufmerksamkeit und richten keinen Schaden an“, ist er überzeugt. Martin Frey, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Pneumologie, siedelt die Atemtherapie in einer Grauzone zwischen Wellness, Psychologie und zum Teil Esoterik an und weist auf die fehlende Evidenz dieser wissenschaftlich nicht überprüften Therapieform hin. Sie sei überdies, so betont er, nicht zu vergleichen mit der „Atemphysiotherapie“, die beispielsweise bei der Sekretlösung helfe. Gegen Entspannungs- und Atemkontrollübungen und den damit verbundenen Gesprächen, so Mediziner Frey, gebe es absolut nichts einzuwenden, so lange sichergestellt sei, dass aber Lungenpatienten von medizinischem Fachpersonal behandelt werden.

 

Die Atemtherapeutinnen selber nehmen ihr Fach durchaus ernst und investieren mitunter viel Geld und Zeit in eine Ausbildung, die je nach Vorkenntnissen, Modulwahl und Rahmenlehrplan zwischen 25‘000 und 35‘000 Franken kostet, sich über zwei bis drei Jahre erstreckt, berufsbegleitend absolviert wird und zwischen 900 und 1‘800 Lektionen Unterricht beinhaltet, anschliessende „Vertiefungskurse“ nicht mitgerechnet. Trotz diesem Aufwand ist die Atemtherapie unter den insgesamt 135 von der ASCA anerkannten „Gesundheitsmethoden“ im anforderungsgeringen Bereich klassifiziert und geniesst einen ähnlichen Stellenwert wie beispielsweise eine Klang-, Mal-, Aroma-, oder Figurenspieltherapie. Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis Atemtherapeutinnen mit dem Segen des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) in den Genuss einer staatlichen Anerkennung kommen. Die auf Bundesebene laufenden Bestrebungen, die Atemtherapeuten in einem ersten Schritt mit einem Branchenzertifikat "Komplementärtherapeut" auszurüsten und in einem zweiten Schritt Fachleuten einen eidgenössischen Berufsabschluss zu ermöglichen, sind auf gutem Wege. (s. Interview)

 

Derzeit existieren allein in der Deutschschweiz fünf Schulen, die Atemtherapeutinnen ausbilden. Interessentinnen haben die Wahl zwischen der Psychodynamischen Körper- und Atemtherapie am aargauischen Lehrinstituts LIKA, der Atemtherapie des Instituts für körperzentrierte Psychotherapie (IKP) in Zürich, und einer Ausbildung in Atemtherapie auf „logopsychosomatischer Grundlage“ an einem Institut, das sich „Schule für geistig-seelische Anatomie“ nennt. Zwei weitere „Ateminstitute“ in Zürich und Bern haben sich ganz der Methode von Ilse Middendorf verschrieben, der „grand old lady“, die als Begründerin des „erfahrbaren Atems“ in der Branche hohes Ansehen geniesst und dafür plädierte, den Atem nicht willentlich zu steuern, sondern natürlich fliessen zu lassen. Zitat: „Ich lasse meinen Atem kommen, ich lasse ihn gehen und warte, bis er von selber wiederkommt.“

 

Die Aussage mag banal klingen, das Rezept hat funktioniert. Die mit ihrer Lehre äusserst erfolgreiche Dame soll ein ausgeglichenes und sinnstiftendes Leben geführt haben und nahm ihren letzten Atemzug im Jahr 2009 im hohen Alter von 99 Jahren.

 

ENDE LAUFTEXT

 

Interview mit Agathe Löliger, Mitglied der Qualitätskommission beim Schweizer Berufsverband für Atemtherapie und Atempädagogik Middendorf (sbam)

 

Die meisten Menschen atmen, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was ist falsch daran?
Nichts, jedoch kann es sich lohnen, der Atmung hin und wieder mehr Beachtung zu schenken, etwa dann, wenn man emotional aus der Balance ist. Nicht umsonst rät der Volksmund, tief durchzuatmen und innezuhalten, wenn ein Mensch über zu reagieren droht.

 

Die Atemtherapie richtet sich auch an Menschen, die kerngesund sind. Was macht dies für einen Sinn?
Es geht darum, das Bewusstsein für den Atem und somit den Selbstwahrnehmungsprozess zu schärfen. Doch irgendein Anliegen oder Problem haben die meisten Klienten, die eine Therapie starten. Manche leiden unter Schlafstörungen oder Rückenproblemen, andere wollen den Beckenboden kräftigen oder ihre Haltung stabilisieren.

 

Wie funktioniert eine Atemtherapie? Liegend? Sitzend? Stehend?
Alle Varianten sind denkbar, das kommt auf die Methode und den Wunsch der Klientin an. Die Therapie kann sowohl in einer Einzelstunde wie im Gruppenunterricht stattfinden. Grundsätzlich geht es darum, dass der Schnauf über bestimmte Bewegungsabläufe, Druck und Dehnung in verschiedene Körperräume gelockt wird. Als Therapeutin erteile ich allerdings nicht einfach nur Anleitungen, sondern bin selber in Bewegung und gebe den Klienten Hinweise, worauf sie achten müssen. Nach jeder Übung kehrt man in die Stille, lauscht, spürt, schaut in sich herein und benennt gegenüber der Therapeutin bzw. der Gruppe die mit der Übung einhergehenden Veränderungen.

 

Atemtherapie, propagieren die beiden Fachverbände sbam und AFS, schaffe Abhilfe bei Depressionen, Verdauungsproblemen und sogar Panikattacken. Woher weiss man das?
Wissenschaftliche Studien über die Wirksamkeit liegen keine vor. Die Atmung beeinflusst die Bewusstseinsvorgänge im Grosshirn jedoch zentral. Zudem werden die positiven Effekte der Atemtherapie immer wieder von Klienten bestätigt, die diese über längere Zeit hinweg in Anspruch nehmen. Damit erklärt sich auch, dass die Nachfrage nach dieser Methode steigend ist. Interessanterweise ist unbestritten, dass eine gute Atemtechnik von gebärenden Frauen wichtig ist. Dass eine gute Atemqualität aber auch helfen kann, schwierige Alltagssituationen zu meistern, dringt erst langsam ins Bewusstsein der Menschen.

 

Verhält es sich mit der Atemtherapie wie mit anderen Verfahren der Alternativmedizin. Sie hilft, wenn man daran glaubt?
Das klingt mir zu einfach. Durch die Atemtherapie wird der Stoffwechsel nachweislich angeregt. Vor allem verändert sich durch den achtsamen Umgang mit dem Atemgeschehen die Körperwahrnehmung. Das ist in meinen Augen der springende Punkt, der zu einer positiven Veränderung oder im Idealfall sogar zu einem Nachlassen von Beschwerden führen kann.

 

„Erfahrbares Atmen“ nach Ilse Middendorf, „holotropes Atmen" nach Stanislav Grof, „inneres Atmen" nach Cornelis Veening. Was liegt gerade im Trend?

In der Atemtherapie spielen Trends eine untergeordnete Rolle. Beim holotropen Atmen gemäss Grof wird der Klient in einen ekstatischen Zustand überführt. Beim inneren Atmen nach Veening liegt das Augenmerk auf tiefenpsychologischen Elementen und bei Middendorf wiederum stehen die verschiedenen Qualitäten des Atems im Vordergrund. Jeder Mensch kann selber herausfinden, auf welche Methode er anspricht. Atemtherapie versteht sich durchaus auch als Hilfe zur Selbsthilfe. Denn die im Kurs gelernten Übungen kann man auch zu Hause oder unterwegs praktizieren; etwa wartend an der Bushaltestelle.

 

Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) ist gewillt, einen neuen Beruf „Komplementärtherapeut“ zu schaffen und Zulassungsbedingungen für eine Höhere Fachprüfung (HFP) zu definieren. Die Chancen stehen gut, dass nach „Craniosacral“, „Shiatsu“, „Eutonie“, „Auyurveda“ und „Yoga“ auch die Atemtherapie in der Prüfungsordnung anerkennt wird. Was heisst das für Ihre Branche?
Grundsätzlich kommt dies einer weiteren Akzeptanz der Komplementärtherapie und einer generellen Aufwertung der Atemtherapie gleich. Begrüsst werden dürften die Bestrebungen auf Bundesebene wohl auch von den Krankenkassen, die bisher manchmal zweifelten, ob Atemtherapeuten genügend Fachwissen mitbringen. Mit einer HFP und einem eidgenössischen Abschluss wird garantiert, dass Atemtherapeuten über eine standardisierte, strukturierte und fundierte Ausbildung verfügen. Kann der Fahrplan eingehalten werden, soll die Atemtherapie bis Ende 2014 von der Organisation der Arbeitswelt Komplementärtherapie (OdA KT) anerkannt sein und vom SBFI auf die offizielle Methodenliste gesetzt werden.

 

Von den Schulmedizinern werden die Atemtherapeutinnen nicht ganz ernst genommen, mitunter sogar ein wenig belächelt. Stört Sie das?
Niemand bestreitet, dass es für eine medizinische Diagnose und Behandlung die Schulmediziner braucht. Dies schliesst aber nicht aus, dass jemand, der aufgrund von Atemwegsproblemen in ärztlicher Behandlung ist, ergänzend dazu eine Atemtherapie macht, die auf die persönlichen Bedürfnisse und Anliegen der Klienten zugeschnitten ist. Es wäre schön, wenn auch Pneumologen der Atemtherapie mit Respekt begegnen. Wir Therapeutinnen verstehen uns nicht als Heilpraktikerinnen. Aber wir sind in der Lage, Klienten in ihrem Genesungsprozess in einer Art und Weise begleiten, die während einer ärztlichen Konsultation aus zeitlichen Gründen fehlt.