PUBLIKATION

NZZ am Sonntag

ZUSAMMENARBEIT

Mara Truog (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

17.2.2008

DRACULA AUS DEM AARGAU

 

Vom Sonntagsschüler und Sänger im Bibel-Musical zum Friedhof-Vandalen. Wie aus Raoul Hilti, Sohn einer frommen Familie, ein Grabschänder wurde.

 

Die langen Haare flankieren das Gesicht, fallen auf die Schultern. Durchtrainiert ist der Oberkörper, stechend der Blick. Raoul Hilti, 25, ist ausser Atem. Zwei Stunden lang hat er gekämpft. Jetzt schnappt er sich sein Handtuch und sinkt in einen Plastikstuhl. Es ist das Box-Training, das ihn hier in einer ungeheizten Zürcher Industriehalle an den Rand der Erschöpfung bringt. Doch Pausieren ist ist nicht angesagt. Sein Trainer macht schon wieder Tempo: «Vorwärts, Raoul, geh' duschen und zieh dich an. Sonst verpasst du den Zug. Um elf Uhr musst du spätestens zu Hause sein.»

 

Zu Hause, das ist eine Drogenentzugsstation am Fusse des Zugerbergs, in der Raoul seit neun Monaten wohnt und arbeitet. Hier, auf knapp 1000 Metern über Meer, ziemlich weg vom Schuss, soll er sein Leben in den Griff bekommen. Das Box-Training ist Teil des Entzugsprogramms. «Ich muss es jetzt packen», sagt Raoul und schürzt die Lippen. Sein Leben gäbe in der wilden Verflechtung von Anpassung, Aufstand und Absturz Stoff gleich für mehrere Melodramen ab. Aber darauf deutete anfänglich nichts hin.


Aufgewachsen in der aargauischen Provinz, besucht er die normalen Schulen. Der Vater ist ein international anerkannter Physiker, die Mutter eine engagierte Krankenschwester. Eine sympathische Familie, kreativ, liebenswürdig und gläubig. Raouls Eltern engagieren sich in einer evangelischen Freikirche. Die Gruppierung glaubt, dass Jesus Christus persönlich eines Tages wieder auf Erden kommt. Auch Raoul soll das glauben. Vers für Vers.  Psalm für Psalm: «Die Gott suchen, denen wird das Herz aufleben.»

 

Raoul betet, singt vor dem Schlafengehen fromme Lieder, steht für ein Bibel-Musical auf der Bühne, geht jedes Wochenende zur Kirche. Bis zum dreizehnten Lebensjahr macht er artig mit, doch irgendwann hat er genug. Er fühlt sich angezogen von etwas anderem; vom Gegenteil dessen, was in der Freikirche gepredigt wird: von Bier, Partys, Black Metal, Joints. Mit dreizehn raucht er zum ersten Mal Gras. Zuerst kifft er am Wochenende, dann auch unter der Woche. Bald einmal will er wissen, wie andere Substanzen wirken. Mit sechzehn probiert er zum ersten Mal Ecstasy, mit achtzehn greift er zu Speed und kombiniert das Ganze mit LSD. Schliesslich hat er, der Sohn des renommierten Physikers, sich auch mit LSD-Erfinder und Chemiker Alfred Hofmann befasst.


Werktags reisst er sich zusammen und erscheint Tag für Tag im Lehrbetrieb. An den Wochenenden schwärmt er aus; zu Goa-Partys in der Region Aargau, Bern und Zürich, «denn dort bekommst du einfach alles: vom Räucherstäbchen bis zum Heroin.» Drei Jahre dauert der Zustand an. Vollgepumpt mit Drogen erscheint er nachts zu Hause. Der Vater weiss nicht, was tun, redet auf seinen Sohn ein, will ihn zur Vernunft bringen, resigniert aber bald. Die Mutter weint und fleht ihn an, mit der Selbstzerstörung aufzuhören. Umsonst.


Im Paarlauf mit den Drogen wächst das Interesse für Okkultismus. Die Verehrung Satans als widergöttliches Prinzip scheint Raoul ein verlockend einfacher und zugleich provokativer Weg, mit der Jugendzeit und dem Elternhaus, mit der ganzen verdammten Frömmigkeit zu brechen. Endgültig. Im Kokainrausch macht er sich nach Mitternacht mit seinen Freunden auf den Weg Richtung Friedhof. Die Bars und Diskotheken in der aargauischen Provinz kennen sie nun wirklich zur Genüge. Ein Rendez-vous mit den Toten ist doch mal was Neues. Am Anfang hängen sie da einfach nur rum, trinken Bier und kiffen. Dann trampeln sie auf den Gräbern rum und verwüsten die Bepflanzung.


Die Fensterscheiben werden mit Steinen eingeschlagen, die Holzportale mit dem Brecheisen aufgebrochen, wenn denn die Türen verriegelt sind. Manchmal stehen sie aber auch offen, und die kirchlichen Roben können ganz leicht geklaut werden. Auf Friedhöfen reissen sie Kruzifixe aus und stecken sie umgekehrt in die Erde. Einmal ziehen sie mit einem Benzinkanister los, schütten die Flüssigkeit in Form des fünfeckigen Pentagons vor den Gräbern aus und zünden sie an. Wie oft die Clique gewütet hat, kann Raoul nicht mehr sagen, aber es müssen Dutzende Male gewesen sein. Angst, entdeckt zu werden, braucht die Clique nicht zu haben. Angst haben die anderen: Eine ältere Frau, die am Friedhof vorbeispaziert und die Schandtaten beobachtet, ein verliebtes Pärchen, das nächtens bei Mondschein unterwegs ist, innehält, «aufhören, ihr spinnt ja!» ruft und dann wegrennt - eingeschüchtert von den schwarzen Gestalten, die nur dumm grölen und weiterwüten.


Die Aktionen werden Mal für Mal krasser, die Hemmschwelle sinkt, der Spassfaktor steigt. Einmal wird ein Huhn rituell geschlachtet, ein andermal gegenseitig Menschenblut getrunken und mit einer Gartenschaufel in den Gräbern gestochert. Wie sieht eigentlich eine vermoderte Leiche aus? Es gab Momente, da hätte nicht mehr viel gefehlt, und die jungen Männer wären bis zum Äussersten gegangen. Stattdessen muss der Corpus Christi dran glauben und wird mit voller Wucht auf dem Boden zerschmettert. Arme, Kopf und Rumpf fliegen zerstückelt in alle Richtungen und bleiben liegen. Aus einer Vitrine wird der Schädel des heiligen Christophorus entwendet und in einen Plasticsack gesteckt. Erlösung durch Glauben? Wer's glaubt, wird selig. «Wir wollten das Extreme ausloten», sagt Raoul. Es ist die Zeit, in der er auf dem Höhepunkt seiner Sucht angelangt ist. Er konsumiert mehrere Substanzen wild durcheinander und steckt tief in den Schulden. Er hat immer öfter Erinnerungslücken und leidet unter Muskelverkrampfungen. Als erste Lähmungserscheinungen zutage treten, vertraut er sich einem Arzt an.


Dieser spricht Klartext: Weitermachen wie bisher und abkratzen noch vor dem dreissigsten Geburtstag oder sofort aussteigen. Raoul lässt sich in eine stationäre Entwöhnungsinstitution einweisen. Die ersten Monate im Entzug verlaufen erfolgreich, die Betreuer sind voll des Lobes: intelligenter Typ, kooperativ, humorvoll, sympathisch. Er ist noch jung, er könnte es schaffen.


Auch Raoul ist optimistisch. Er kocht, arbeitet in der Werkstatt, erscheint zur Psychotherapie, geht zum Boxen. Er sieht gut aus, er ist fit. Er kehrt pünktlich vom Ausgang zurück, ausser einmal, da stürzt er ab, greift wieder zu: Leert zwölf Büchsen Bier, raucht mehrere Joints und greift zum weissen Pulver. Noch im Rausch telefoniert er in die Entzugsstation und lässt sich für zwei Tage zum Ausnüchtern in eine geschlossene Klinik sperren. Dann fasst er einen Vorsatz: ein Comeback wie ein angezählter Boxer. Die Auferstehung eines Kämpfers.


Es geht bergauf. Raoul zieht nach zehn Monaten in der Drogenentzugsstation in die betreute Wohngemeinschaft . Er arbeitet als Zimmermann in einem Kleinbetrieb, verdient sein eigenes Geld. Am nächsten Montag ist wieder Box-Training. 200 Kniebeugen, 20 Liegestützen zum Aufwärmen. Dann wird er die Schläge üben: Upper Cut, rechte Gerade, Linke Gerade. Ihm ist es egal, welche Rolle er im Ring spielt: Den Good Guy oder den Bösewicht. «Hauptsache, ich kann kämpfen», sagt er mit kontrollierter Stimme und schickt ein leises Lachen nach.


Der Schädel des heiligen Christophorus steht immer noch auf dem Schrank seines Kollegen. Die Kirche hat Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. Polizeiliche Nachforschungen haben jedoch nichts erbracht. Die Täterschaft wurde nicht ermittelt. Die Versicherung hat der Kirchgemeinde nach der Entwendung der Reliquie 44 000 Franken bezahlt. «Der heilige Christophorus war sehr wertvoll», erklärt ein Pfarrer des betroffenen Pfarramts die hohe Summe und führt unumwunden aus, dass mit einemTeil der Versicherungssumme die dringliche Renovation der Kirchenorgel bezahlt wurde. Finanziell, sagt der Kirchendiener, sei die Sache somit geklärt, «doch nicht vor Gott», fügt er an und appelliert an das Gewissen des Friedhofschänders, den er bis heute nicht kennt: «Wenn er eine Aussprache wünscht, stehe ich jederzeit bereit.» Raoul winkt ab und sagt: «Ich schaue nach vorn, und nicht zurück.» Wie eine hohle Phrase klingt das nicht.

 

Name geändert