PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Theodor Strübin (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

27.6.2011

EVALUIEREN GEHT üBER STUDIEREN

 

Die Evaluationen von Schweizer Schulhäusern drohen zu einem Ritual zu erstarren. Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis.

 

Spinnendiagramme, Kapitelüberschriften und Inhaltsverzeichnis lassen auf die Zertifizierung einer Bildungsinstitution auf Tertiärstufe schliessen, doch was hier auf über 100 Seiten zusammengefasst wird, sind die Evaluationsergebnisse einer Primarschule, konkret der Landschule in Greppen am Vierwaldstättersee. Das Schulhaus, an dem 12 Lehrer rund 100 Kinder unterrichten, steht direkt neben der Dorfkirche, ist umgeben von einem Spielterrain mit Wippe, Klettergerüst, Schaukeln, schattenspendenden Bäumen und einem kleinen Bächlein.


Die Landschule Greppen macht mit bescheidenen Mitteln gute Schule. Sie ist arm an Konflikten, aber reich an Informationen; an Informationen wie diesen: Im Bereich Lernkultur sind 25 Prozent der Lehrpersonen der Ansicht, dass Schwierigkeiten «gut erkannt» werden. – In der Begabungsförderung bewerten 17 Prozent der Eltern Veränderungen als «eher nicht nötig». – Im Bereich Methodenkompetenz sind 6 Prozent der Schüler der Ansicht, dass sie aus Fehlern «genügend» lernen. Beim Fussballspielen, so eine weitere Erkenntnis der Evaluatoren, könne es in Greppen «zu Unstimmigkeiten oder kleinen Streitereien» kommen.


«Was da ins Kraut schiesst», verschaffte sich ein mit Herzblut unterrichtender Lehrer unlängst in einem Rundschreiben zum Reizthema Evaluationen Luft, «ist für Lehrer und Schüler von absoluter Irrelevanz.» Seine Sorge, mit den pfundschweren Berichten würden finanzielle und personelle Ressourcen in Millionenhöhe verschleudert, die den Schulkindern in keiner Art und Weise zugutekämen, quittierten die Adressaten mehr resigniert denn entrüstet: Der Zug der Evaluation, so die vorherrschende Meinung in den Lehrergremien, sei in voller Fahrt und könne nicht mehr gestoppt werden.


Tatsache ist, dass manche kantonalen Fachstellen zunehmend Mühe bekunden, ihr Wirken gegen aussen zu legitimieren. Die Auflösung der Evaluations-Fachstelle wird per parlamentarischer Initiative zwar nur im Kanton Zürich gefordert, doch könnte das von einer CVP-Schulhausleiterin lancierte Begehren auch andernorts hellhörig machen. In 20 Kantonen hat die Evaluation der Volksschulen mittlerweile Fuss gefasst, in 16 davon flächendeckend. Allein in der Deutschschweiz haben die zuständigen – entweder bei den Bildungsdirektionen oder pädagogischen Hochschulen angesiedelten – Fachstellen bisher weit über tausend Schulen evaluiert. Kosten pro Evaluation: 20 000 bis 60 000 Franken. Mitarbeiterstab pro Fachstelle: 6 bis 10 Personen.


Unter Berücksichtigung kantonsspezifischer Unterschiede ist bei den Evaluationen etwa folgende Vorgehensweise auszumachen: Klärung des Evaluationsrahmens, Erstellung eines Schulportfolios, Planungssitzung der Hauptverantwortlichen, Information der Lehrer, Vorbefragung der Eltern, Einbezug der Schüler, Datenerhebung vor Ort mittels mündlich geführter Einzel- und Gruppeninterviews sowie Schulbesuchen und Sitzungsbeobachtungen, Datenaufbereitung, Datenanalyse, Validierungssitzung mit Rektorat, Schulpflege und Schulleitung, mündliche Berichterstattung vor dem Kollegium, schriftliche Berichterstattung mit Handlungsempfehlungen, Reflexion der Ergebnisse, Nachbefragung der Lehrpersonen, Formulierung eines Massnahmenplans.


Ob nun in Glarus, Bern oder St. Gallen – meist klingen die «Handlungsempfehlungen», welche die Evaluatoren abgeben, ähnlich. Zum Beispiel: «Schulhausleiter und Lehrpersonen können den eingeschlagenen Kurs grundsätzlich fortsetzen.» Oder: «Zur Verfügung stehende Zeitgefässe sollten gewinnbringender eingesetzt werden.» Sowie: «Bei der internen Kommunikation ist eine Optimierung anzustreben.» Nach harten Fakten – zu grosse Klassen, zu wenig Platz, schlechte Stimmung, tiefes Leistungsniveau – sucht man vergeblich. Diese Aspekte, rechtfertigen sich die Fachstellen, seien nicht Forschungsgegenstand, sondern «die Schule als Ganzes mit ihren verschiedenen Prozessqualitäten».


Um Eltern, Lehrer, Schüler und Rektorate nicht zu brüskieren oder aus Angst, gegen das Datenschutzgesetz zu verstossen, bleibt der Inhalt meist nebulös. «Doch Berichte ohne jegliche Aussagekraft», so Anton Strittmatter vom Verband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), «bringen die Schule kein Stück weiter. Die Evaluationen drohen zu einem unproduktiven Ritual zu erstarren.» Ohne zu wissen, was mit den Evaluationen bezweckt wird, bauen viele Kantone ihre Fachstellen weiter aus. Die Universität Bern bietet ab 2012 sogar einen auf Schulevaluationen ausgerichteten Weiterbildungskurs an.


Es ist das Schwammige und Unkonkrete, das nun politische Kreise am Sinn der Sache zweifeln lässt. Doch auch auf Lehrer, die tagtäglich mit den Herausforderungen in Schulzimmer und Klassenverband konfrontiert sind, machen die hochtrabenden Formulierungen wenig Eindruck. Manche fühlen sich durch die aufwendig inszenierten Evaluationen verschaukelt und sehen diese vorab als Folge einer aufgeblähten Bildungsverwaltung. Im Kanton Schwyz überlegt sich ein Teil der Lehrerschaft ernsthaft, die Umfragen zu boykottieren. Andernorts ist die Haltung der Lehrerschaft ambivalent. Wird sie damit behelligt, stellt sie den Nutzen in Zweifel und jammert über die vertrödelte Zeit, wird sie nicht einbezogen, ist sie beleidigt.


Es ist nicht klar, welche Rolle die Fachstellen überhaupt einnehmen. Sehen sie sich als Partnerin der Schule oder als vom Kanton eingesetztes Kontrollorgan? «Beides gleichzeitig können sie nicht sein», meint Strittmatter. Zudem: Sind die Empfehlungen in den Berichten verbindlich oder einfach nur als Anregung zu verstehen? Ob schliesslich Massnahmen auch umgesetzt werden, entzieht sich nämlich oftmals der Kenntnis der Evaluatoren. Denn bis die Nachfolgeevaluation einsetzt – meist verstreichen vier bis sechs Jahre –, sieht die personelle Zusammensetzung des involvierten Schulpersonals oft völlig anders aus, und niemand fühlt sich mehr zuständig für die damals formulierten «Optimierungsempfehlungen».


Auf den Vorwurf, die Evaluationen würden nichts Neues, nichts Relevantes, geschweige denn Überraschendes zutage fördern, reagieren die zuständigen Fachstellen gelassen. Es gehe, heisst es etwa in Luzern, gar nicht darum, Missstände aufzudecken, sondern «Vorhandenes zu offizialisieren». Andernorts entsteht der Eindruck, die Verantwortlichen selber stünden nicht wirklich hinter dem Vorhaben. Mit dem Verweis auf wissenschaftliche Methoden nehmen sich die Ämter aus der Pflicht. Die kantonalen Bildungsdirektionen wiederum verweisen auf die kantonalen Volksschulgesetze, die Evaluationen nahelegen oder gar vorschreiben, um etwa «Funktionsstörungen innerhalb des Wirkungsfeldes Schule zu ermitteln» (Aargau) oder «Steuerungswissen für Behörden zu beschaffen» (Thurgau).


Niemand kann sagen, wie sich im Schulhaus Greppen der Veränderungsbedarf im Bereich Methodenkompetenz seit der letzten Erhebung entwickelt hat. Aber sicher – wenn auch nicht wissenschaftlich erhärtet – ist: Beim Fussball geraten sich die Jungs immer noch gelegentlich in die Haare.


Interview mit Peter  Steiner, Leiter der Fachstelle Externe Schulevaluation an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und zugleich Präsident der internationalen Arbeitsgemeinschaft Externe Evaluation von Schulen ARGEV

 

Die externe Schulevaluation (ESE) wurde vor Jahren als vielversprechendes Instrument der Qualitätssicherung eingesetzt. Nun gerät sie zunehmend unter Druck. Liegt dies am Verfahren selber oder an der Umsetzung?
Vorweg: Leider hört und liest man in den Medien vor allem die kritischen Stimmen. Datengeschützte Nachbefragungsergebnisse zeigen aber, dass die externe Schulevaluation im Kanton Aargau und in anderen Kantonen eine erfreulich grosse Akzeptanz geniesst. Sie ist ein vergleichsweise junges Element des kantonalen Qualitätsmanagements, und es ist klar, dass wir noch Optimierungsmöglichkeiten haben. Die zuständigen Fachstellen sind lernend.


Nach einer rund zehnjährigen Aufbauphase liegen noch «keine empirisch erhärteten Befunde zur tatsächlichen Wirksamkeit solcher Schulevaluation vor». Trotzdem wird je länger, je intensiver evaluiert. Ist das sinnvoll?
Die Frage ist, was mit Wirkung gemeint ist. Wenn ich manchmal sehe, welche Aufregung und welche Aktivitäten bereits die Ankündigung einer Evaluation in den Schulen auslöst, sieht man, dass sie schon präventiv wirkt. Die Sache mit der Wirksamkeit ist aber komplex. Um herauszufinden, wie eine externe Schulevaluation wirkt, müsste man ein Modell haben, das vorgibt, woran man die Wirksamkeit misst. Und dieses Modell gibt es noch nicht. Deshalb hat die Fachhochschule Nordwestschweiz, für die ich arbeite, beim Nationalfonds ein Forschungsprojekt zum Thema Wirksamkeit von Evaluationen eingegeben.

 

Der Lehrerverband vertritt die Ansicht, dass die Schulen sich selber evaluieren können. Was sagen Sie dazu?
Selbstevaluationen sind das zentrale Element des schulinternen Qualitätsmanagements. Tatsache ist aber, dass die meisten Schulen dies gar nicht machen oder erst damit begonnen haben. Insofern ist ein externer Blick auf die Schule schon gerechtfertigt. Die Ergebnisse der ESE stellen nicht zuletzt eine Rechenschaftslegung der Schule gegenüber Behörden und Öffentlichkeit dar. Einwohnerinnen und Einwohner, insbesondere Eltern, wollen und sollen wissen, wie gut ihre Steuergelder eingesetzt werden. Wird nur intern evaluiert, besteht die Gefahr, dass blinde Flecken nicht ausgeleuchtet oder Dinge beschönigt werden.

 

In den meisten Kantonen legt der Bildungsrat die Qualitätsstandards fest. Für deren Einhaltung ist dann die Schulpflege verantwortlich. Sind das nicht ausreichende Garanten für die Qualitätssicherung an den Schulen?
Ich erinnere daran, dass der Tätigkeit sämtlicher Evaluationsfachstellen eine politische Entscheidung zugrunde liegt. Es ist nicht so, dass die Pädagogischen Hochschulen oder kantonalen Bildungsdirektionen einfach aus einer Laune heraus diese Fachstellen eingerichtet haben, sondern dass diese im Zusammenhang mit der Schaffung der teilautonomen Schulen von der Politik gefordert wurden. Die Arbeit der Evaluation ist – als Element der Qualitätssicherung – in den kantonalen Volksschulgesetzen verankert. Es geht also um die Umsetzung dieser Norm.

 

Viele Schulen wissen gar nicht, was sie mit dem Bericht machen sollen, der ihnen am Ende der Evaluation in die Hände gedrückt wird.
Ja, hier bestehen Unsicherheiten. Den Schulen fehlt oft noch das Know-how im Umgang mit Evaluationsdaten. Das haben wir gemerkt. Unsere Hauptaufgabe liegt aber nicht in der Abgabe von Empfehlungen, sondern in der Analyse der Schulqualität. Auf deren Basis kann die Schule dann selber Entwicklungsmassnahmen ableiten. Wenn eine Evaluation zum Beispiel zeigt, dass Gewalt an der Schule ein Problem ist, sagen wir nicht einfach, ihr müsst das innert fünf Jahren – bis zur nächsten ESE – im Griff haben. Wir wollen Zusammenhänge aufzeigen, die zu Gewalt führen, und herausfinden, ob die Schule imstande ist, mit dem Problem umzugehen.

 

Die in Zürich aktiv gewordenen Politiker, welche die Abschaffung der Fachstelle fordern, sind der Meinung, bei Schulevaluationen handle es sich um einen «administrativen Overkill». Was sagen Sie dazu?
Dass dies ein politisches Schlagwort ist. Für wen soll denn der Aufwand zu gross sein? Wir haben den Aufwand im Kanton Aargau errechnet. Für die Lehrpersonen beträgt er pro Evaluation acht Stunden, für Schüler und Eltern eins bis zwei Stunden. Ich finde das vertretbar, wenn man bedenkt, dass das alle fünf Jahre verlangt wird. Mehr Aufwand hat die Schulleitung, die ein Portfolio der Schule zusammenstellen muss. Dies wurde zum Teil zu exzessiv betrieben, und manche Schulleiter sind hier – aus eigenem Antrieb – übers Ziel hinausgeschossen. Der personelle und finanzielle Aufwand der einzelnen Fachstellen schliesslich steht immer im Verhältnis zur Anzahl Volksschulen, über die ein Kanton verfügt.

 

Vielen Evaluationsfachstellen gelingt es nicht, ihr Tun gegen aussen verständlich zu kommunizieren. Sie reden von «konsequenter Umsetzung entwicklungsgesteuerter Leitwerte». Was ist denn damit gemeint?
Ich weiss nicht, woher diese Formulierung stammt. Aber im Kanton Aargau gelingt es uns offenbar, zu erläutern, was wir tun. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Zuhörer sich auf das anspruchsvolle Thema der Evaluation inhaltlich einlassen.