SELBSTBESTIMMUNG - MEHR ALS EIN MODEWORT DER SOZIALBRANCHE?
Menschen mit Behinderung wollen nicht «überbetreut» werden, sondern sich an Entscheidungen, die ihren Alltag betreffen, beteiligen. In der Praxis stösst das Credo nach Selbstbestimmung aber gelegentlich an Grenzen – denn die Sache mit der Autonomie ist komplexer, als man meint.
Es gibt Begriffe, die so positiv besetzt sind, da verspürt man keine Lust, sie zu hinterfragen. Selbstbestimmung ist so ein Begriff, oder Selbstverantwortung. Tönt wunderbar, ist schon lange im Trend und taucht in Diskussionen und Publikationen immer wieder auf; gerade auch im Kontext von Menschen mit Behinderung.
Wer möchte im Jahr 2024 schon eigenmächtig über die Köpfe dieser Menschen hinwegbestimmen, ihnen vorschreiben, wie, wo und mit wem sie wohnen, was sie arbeiten oder in welcher Institution sie ihren Alltag mit welchen Aktivitäten verbringen? Es herrscht Konsens, dass Betroffene mitreden und mitbestimmen sollen, wenn es um die Ausgestaltung ihres Alltags und somit um ihre Lebensqualität geht.
In der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz vor exakt zehn Jahren ratifiziert hat, verpflichtet sich unser Land sogar explizit, die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung voranzutreiben, deren Bedürfnisse, Wünsche und Ideen ernst zu nehmen. Dabei geht es um viel mehr als um bauliche Anpassungen von Bushaltestellen oder die Mitsprache beim Menüplan im Behindertenheim. Es geht bei dieser Aufgabe zuerst und primär um den Abbau von «Barrieren im Kopf», um Teilhabe und Inklusion in allen relevanten Lebensbereichen: Wohnen, Arbeit, Freizeit, Partnerschaft. Kurz und gut: um das Recht auf (möglichst) freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Zweifellos hat diesbezüglich im Laufe der letzten fünf Jahre ein Paradigmenwechsel stattgefunden – auch auf politischer Ebene. So sind in vielen Kantonen – darunter Zürich und Thurgau, wo andante mit diversen Angeboten präsent ist – sogenannte Selbstbestimmungsgesetze in Planung oder bereits in Kraft. Sie wurden, auch das ist neu, unter Mitarbeit von Betroffenen und Angehörigen ausgearbeitet.
Die Stossrichtung der neuen Gesetze ist überall die gleiche. Profitieren von den Dienstleistungen im Behindertenbereich sollen nicht in erster Linie die Institutionen, die dafür von Bund und Kantonen finanziell entschädigt werden, sondern die Betroffenen selbst, die dank neuen gesetzlichen Grundlagen zwischen ambulanter und stationärer Betreuung wählen können. Bevor eine Person mit körperlicher und/oder kognitiver Behinderung eine Leistung bezieht, wird gemeinsam mit ihr abgeklärt, welche Unterstützung sie braucht und will. Der Klient oder die Klientin soll nicht unterversorgt, vor allem aber auch nicht überbetreut werden. «Rundum-Wohlfühl-Pakete», wie sie die Kantone bisher von den Institutionen erwarteten, soll es nicht mehr geben. Wo eine Ganztagesbetreuung in einer Institution in einem bestimmten Fall die richtige Lösung sein mag, kann in einem anderen Fall ein externes, teilbetreutes Wohnen mit wenigen Stunden Assistenzleistungen (zum Beispiel für Haushalt, Fahrdienste oder Körperpflege) mehr Sinn machen.
Der Nebeneffekt: Die Ressourcen der Betroffenen werden gezielter genutzt und gefördert. Im Idealfall spart die öffentliche Hand sogar Geld. Vorhandene Mittel – sei es Geld oder Personal – werden gezielter eingesetzt. Entsprechend spricht man heute nicht mehr von «Objektfinanzierung“, sondern von «Subjektfinanzierung». Das heisst: Menschen mit Behinderung erhalten Gutscheine und können diese einlösen, wo es ihnen passt. Auch müssen sie sich künftig nicht mehr fix an eine Institution oder einen bestimmten Dienstleister binden, sondern dürfen sich von verschiedenen Leistungserbringern unterstützen lassen. Die Institutionen müssen sich im Gegenzug mit ihren Angeboten auf dem Markt behaupten. Der Wettbewerb spielt deutlich mehr als früher.
Gut positioniert sind somit Institutionen wie andante, die schon immer eine breite Palette an Dienstleistungen im Angebot hatten, viel Flexibilität bei der Betreuung an den Tag legen und fortschrittlich unterwegs sind. Im Rahmen des neuen Selbstbestimmungsgesetzes (SLBG) des Kantons Zürich, das seit 1. Januar 2024 in Kraft ist, wurde andante deshalb mit einem Pilotprojekt beauftragt, das ein Jahr zuvor startete.
Konkret wurde im Haus an der Eckstrasse 10 in Winterthur – eine Liegenschaft, die andante gehört – ein neues Wohnkonzept erprobt. Die stationären Betreuungsverhältnisse wurden allesamt in reguläre Mietverhältnisse umgewandelt. Die Bewohnerinnen wurden somit selbst zu Mieterinnen ihrer Wohnung bzw. ihres Zimmers und erhielten nur noch partielle Unterstützung. Parallel dazu wurden die Präsenzzeiten des Personals reduziert. Es ist nicht mehr rund um die Uhr verfügbar, sondern orientiert sich am individuellen Unterstützungsbedarf der Bewohner. Neu an der Eckstrasse ist auch der so genannte «walk-in»: die offene Tür des Sekretariats für Anliegen aller Art; jeden Abend zwischen 17 Uhr und 18 Uhr.
Wenn wir den Begriff «Selbstbestimmung» kritisch hinterfragen, kann auch Ernüchterung aufkommen. Denn nicht selten stehen Routine und Strukturen, die sich während Jahrzehnten in Institutionen etabliert haben, den Bedürfnissen der Betroffenen im Wege. Die Stiftung andante betrachtet es jedoch als Chance, sich gemeinsam mit der Kundschaft auf neue Konzepte einzulassen und herkömmliche Betriebsabläufe – z. B. fixe Essens- und Ausflugszeiten – zu hinterfragen. Flexibilität, Autonomie und Privatsphäre sind Faktoren im Tagesablauf, die auch Menschen mit Behinderung schätzen. Hinzu kommt: Personen, die mit einer Beeinträchtigung geboren sind, haben ein anderes Verhältnis zu einer eingeschränkten Selbstbestimmung als Menschen, die einmal ein ganz normales Leben geführt haben und plötzlich – z. B. wegen eines Hirnschlags – auf Hilfe angewiesen sind.
Gleichzeitig muss gesagt sein: Die Ausgestaltung eines selbstbestimmten Lebens ist für eine beeinträchtigte Person gar nicht immer so einfach, wie es klingt. Das Konzept kann auch scheitern, wenn ein Klient damit überfordert ist. In einer WG mit anderen Leuten haushalten oder alleine in der eigenen Wohnung leben? Das klingt verlockend, bedeutet aber auch, mehr Pflichten zu haben, Verantwortung zu übernehmen, zu planen und zu organisieren, ein Stück weit auf sich alleine gestellt zu sein. Bereits bei der Pflege des Kontaktnetzes stossen Betroffene mitunter an Grenzen. Erhalten sie hier keinen Support, droht Rückzug oder gar Vereinsamung.
Die Kunst besteht also darin, die Klientinnen und Klienten so gut zu kennen, dass deutlich wird, wo die individuellen Chancen und wo die Risiken eines selbstbestimmten, autonomen Lebens liegen. In diesem Prozess dürfen Erfahrungen gesammelt werden, Dinge ausprobiert und über Bord geworfen werden. Und nur weil ein Gesetz in Kraft ist, bedeutet das nicht, dass sofort alles anders wird. So eine Veränderung braucht Zeit, ein paar Jahre, vielleicht eine ganze Generation.
Dennoch: «Wir lernen laufend dazu und haben keine Angst, immer wieder Neues zu versuchen», bilanziert andante-Geschäftsführer Thomas Diener. «Negative Erfahrungen können und wollen wir weder uns noch unseren Klienten ersparen.» Die Zwischenbilanz falle eindeutig positiv aus: Wer etwas wage, gewinne fast immer. Vor allem die Erkenntnis, dass man Klientinnen und Klienten niemals unterschätzen darf und sich immer wieder vorurteilsfrei auf das Abenteuer Selbstbestimmung einlassen soll.