FAMILIENALLTAG IN DER INDUSTRIELOFT
Die Familie Mengiardi hat an der Maschinengasse in Cham eine der begehrten Papieri-Lofts ergattert und darin ein unkonventionelles Zuhause realisiert. Dank einem durchdachten architektonischen Konzept bleibt die industrielle Vergangenheit darin sicht- und spürbar.
Wer als Eigentümer schon mal ein Haus gebaut, eine Wohnung saniert oder sich um einen Innenausbau gekümmert hat, weiss: Ist ein Projekt abgeschlossen, kommt relativ schnell der Zeitpunkt, in dem man realisiert, was man im Rückblick alles anders oder besser hätte machen können.
Andri Mengiardi kennt dieses Gefühl. Denn der gebürtige Bündner und Zürcher IT-Unternehmer hat in den letzten Jahren als privater Bauherr schon einige Objekte saniert: ein 400-jähriges Engadiner Bauernhaus, in dem er aufgewachsen ist, einen alten Stall bei Affoltern am Albis, den er für den Eigenbedarf umbaute, und vor kurzem beschäftigte er sich mit dem Innenausbau einer Loft in der Papieri, die er zusammen mit seiner Frau erwarb und im Januar 2023 bezog. Betritt man sein neues Zuhause, wird sofort klar: Da war ein Eigentümer mit viel Erfahrung am Werk, und es gibt kaum etwas, das man anders, geschweige denn besser hätte machen können. Vor allem – und das ist «matchentscheidend» für dieses Projekt – ist es Mengiardi gelungen, den «architektonischen Steilpass», den ihm die für den Umbau verantwortlichen Boltshauser Architekten geliefert haben, aufzunehmen. Das renommierte Zürcher Büro hat einen äusserst sorgsamen und gekonnten Umgang mit der historischen Bausubstanz gepflegt − Mengiardi den Innenausbau geradezu perfekt darauf abgestimmt.
Unverputzte Backsteinwände, transparente Glasbausteine, bis zu 6 Meter hohe Räume, kraftvolle Decken und Stützen aus Beton sowie sichtbar geführte Haustechnikinstallationen fallen als prägnante Stilelemente der typischen Loft-Architektur sofort ins Auge. Hinzu kommt eine prägnante Wendeltreppe aus Stahl, die den Raum wie eine Skulptur belebt und der Loft eine zusätzliche Dynamik verleiht. Weil die rund 190 Quadratmeter grosse, über zwei Etagen laufende Loft mit dazugehöriger Loggia Richtung Lorze auch noch äusserst stilsicher möbliert und durchdacht belichtet wurde, zeigt sich hier umso eindrücklicher, wie behaglich es sich in einer ehemals industriell genutzten Baute wohnen lässt.
Beim Objekt handelt es sich um den 1919 erstellten Holländerbau. Dieser ist Teil einer rund 300 Meter langen historischen Häuserzeile, die für die Industriegeschichte, welche hier 1657 mit der Gründung einer Papiermühle begann, besonders wichtig ist. In der Loft der jungen Familie stand einst einer von 15 «Holländern», eine von Holländern erfundene Maschine, mit der für die Papierherstellung Baumwoll-, Leinen-, Hanf- und Flachslumpen zerkleinert und zerfasert wurden. Eine Vorstellung, die den IT-Unternehmer fasziniert.
Angesichts der Bedeutung der Papieri auch für den Kanton war das Amt für Denkmalpflege und Archäologie von Anfang an in die Transformation und Entwicklung des rund 11 Hektaren grossen Areals involviert. Es leistete Grundlagenarbeit, um zu klären, welche Bauten nach denkmalpflegerischen Kriterien zu schützen sind und wie mit den übrigen historischen Zeitzeugen auf dem Areal verfahren werden soll, damit möglichst viel von der Geschichte in die Zukunft getragen werden kann. 2013 definierte die Denkmalpflege die grundsätzlichen Erhaltungsziele auf dem Areal, 2014 liess sie von einer Expertin für Industriekultur ein Detailinventar der als wertvoll erachteten Einzelgebäude erstellen, und 2017 – nachdem der Bebauungsplan 2016 von der Chamer Stimmbevölkerung gutgeheissen wurde – verfügte der Kanton bei sorgfältiger Abwägung aller Interessen die Unterschutzstellung mehrerer Bauten; unter anderem des Gebäuderiegels, in welchem sich auch der Holländerbau befindet. Was die Vorgaben der Denkmalpflege betraf, so beschränkte sich der Schutzumfang für diese Fabrikhallen auf die äussere Erscheinung und die tragende Grundstruktur. Beim Innenausbau der 52 Lofts und 7 Ateliers bzw. Gewerberäume hatten die Eigentümer somit freie Hand.
Basis für die Umnutzung des Areals bildete die Testplanung, welche die Architekten Roger Boltshauser und Albi Nussbaumer im Jahr 2014 für das gesamte Areal erarbeiteten. In der Folge wurde der historische Gebäuderiegel – geprägt durch eine markante Skelettkonstruktion aus Eisenbeton und Ausfachungen aus Zementsteinen – von Boltshauser denkmalgerecht saniert. In seiner urbanen und eleganten Ausprägung fügt er sich passend in die neu realisierte Quartierstrasse. Sie kommt als rhythmisierter Gassenraum daher und weist attraktive Frei- und Verweilflächen vor, die bis zur Lorze vorstossen. Unebenheiten und kleine Fehlstellen an der Fassade sind gewollt, wie Architekt Roger Boltshauser betont. «Wir haben bewusst darauf verzichtet, die Fassade in einen idealisierten historischen Zustand zurückzuversetzen, der gar nie existierte», so der Architekt.
Im Sinne des historischen Erbes verwendete man für die neuen Bauteile am denkmalgeschützten Gebäuderiegel primär Materialien, die bereits im Bestand verbaut worden waren; das heisst: Stahl, Zement- und Backsteine sowie Beton. Das Denkmal wurde auf seine eindrucksvolle Tragstruktur zurückgebaut und die neuen Wohn- und Gewerbeflächen anschliessend gleichsam wieder darin eingewoben. Sowohl die vorgefundenen Stützendimensionen wie die Primär- und Sekundärstruktur der Decken wurden grösstenteils belassen und erzeugen spannungsvolle Raumabfolgen. Die Wände, welche die neu geschaffenen Einheiten begrenzen, verlaufen konsequent neben den Trägern, sodass die industrielle Vergangenheit in den Räumen lesbar bleibt. Ästhet Mengiardi hat den rauen Industriecharme durch die Wahl bestimmter Materialien oder Techniken bei seinem Innenausbau sogar noch unterstrichen: Neue Wände wurden lediglich mit einem groben Putz versehen. In den Nasszellen findet man fugenlosen Mikrobeton. Im Erdgeschoss ist der Boden mit aus Eichenklötzen zusammengesetztem Stirnholzparkett verlegt. Auf der Galerie, wo sich der Schlafbereich des Ehepaars und ein Fitnessraum befinden, hat man sich für einen hellbraunen Korkboden entschieden. Ins Auge springen hier schmale, schwarze LED-Bänder, die an der Betondecke montiert sind und diskret, aber wirkungsvoll nach oben strahlen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die kleinen Holzstücke, die da und dort in den Betonträgern stecken und einst als Befestigungsstellen für Stromleitungen in den Produktionsräumen dienten. Mengiardi liess die Hölzchen bewusst sichtbar – als reizvolle Reminiszenz an früher. Ein Eye-Catcher sind die imposanten Pflanzen, welche die Räume bespielen – insbesondere die 45 Jahre alte Goldfruchtpalme, die im Kinderzimmer bis zur Decke emporwächst.
Alte Bausubstanz habe ihn schon immer magisch angezogen und emotional berührt, sagt Andri Mengiardi und kommt auf seine rätoromanische Heimat Ardez im Unterengadin zu reden. Dort charakterisieren stattliche, sorgsam sanierte Bauernhäuser das intakte Dorfbild, weshalb der Ort 1975 im Rahmen des europäischen Denkmalpflege- und Heimatschutzjahres mit dem Prädikat «Musterdorf» ausgezeichnet wurde. Auf dem Papieri-Areal gefällt Mengiardi aber nicht nur der sorgsame Umgang mit der alten Bausubstanz. «Das Papieri-Quartier verbindet die Qualitäten eines dörflich-ländlich geprägten Miteinanders mit einer Architektur, die urbane Massstäbe setzt und auf Grosszügigkeit angelegt ist.» Als neugieriger Mensch fühlt er sich privilegiert, mit seiner Frau Martina und den Kindern Ava und Aaron Teil dieses Konglomerats zu sein und die weitere Entwicklung des Quartiers in den nächsten Jahren mitzuverfolgen und mitzugestalten. Bis 2030 sollen in seiner Nachbarschaft rund 3000 Menschen wohnen und rund 1000 Arbeitsplätze entstehen.
Das Denkmal in Kürze
Der dreigeschossige Holländerbau, 1919 erstellt, befindet sich auf dem Papieri-Areal in Cham und ist Teil des Gebäuderiegels mit den Papiermaschinenhallen 1–4. Charakteristisch sind die Skelettkonstruktion aus Eisenbeton, die mit Zementsteinen ausgefachte Fassade und die grossflächigen Verglasungen aus Glasbausteinen. Der Bau stellt ein eindrückliches Ensemble der Industriearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts dar und ist von hoher bautypologischer Bedeutung. Die Lofts und Gewerberäume im Holländerbau wurden zwischen 2020 und 2023 realisiert. Bauherrschaft des Areals ist die Cham Immobilien AG.