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Trauerrede im Familien- und Freundeskreis

ZUSAMMENARBEIT

Berti Windlin (Fotografien)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

21.9.2023

ABSCHIED VON MEINEM «PA»

 

Unbequem, witzig und mit einer ausgeprägten Streitlust ausgestattet. Mit meinem Vater gab es keine Langweile. Sein Fanclub war gross. Ich gehörte - trotz allem - auch dazu.

 

«Abschied im Familienkreis» hiess es in der Todesanzeige. Und tatsächlich haben wir uns am 18. August im kleinen Kreis von Pa verabschiedet. Nachher wurden wir aber immer wieder gefragt: Gibt es nicht noch eine offizielle Abdankung für Hans? Wir haben realisiert, dass dies vielen Verwandten, Freunden und Bekannten ein Bedürfnis war. Die unzähligen Briefe und Karten, die wir erhalten hatten, zeigten auch, dass Pa einen grossen Fanclub hatte. Und das hat mehrere Gründe. Pa war ein entspannter Typ, vor allem ein entspannter Vater. Als Kind wurden wir oft um ihn beneidet. «Hans ist cool», hiess es; und es war ja auch so. Wir kamen sehr gut mit ihm zurecht. Er liess uns machen – und wir ihn. Er war ja sowieso meistens nicht zu Hause, sondern im Büro. Gleichzeitig muss man auch sagen: Pa war als Familienvater zwar nicht immer da, aber trotzdem sehr präsent.

 

Pa war für uns Kinder weniger ein Erzieher, als vielmehr ein interessanter Gesprächspartner. Ziemlich gelassen verfolgte er, wie wir Kinder unseren Weg gingen und genoss es, dass wir vier so gut miteinander auskommen, wo wir doch grundverschiedene Typen sind. Unsere Freunde waren zu Hause immer willkommen. Die kleine Küche in Buonas war ein beliebter Treffpunkt. Vier, fünf, sechs Leute quetschten sich dort aufs «Bänkli», schwatzten und rauchten, bis man vor lauter Qualm nichts mehr sah. Am grossen Ahorntisch in unserem Esszimmer fanden legendäre Abende statt. Mit Freunden, Bekannten und vor allem dem «Clan» aus Küssnacht: Hanni und Otti, Annelies und Poldi, Annette und Cornel u.a.m. Sie alle wissen aber auch, welchen Verlauf gewisse Abende nehmen konnten, wenn Pa «in Fahrt» kam. Man hat gegessen, getrunken, gelacht, diskutiert, laut diskutiert: über Europa, die Armee, die Armeeabschaffung, Gleichstellung und natürlich die Kirche. Am Schluss hatten wir manchmal einen handfesten Krach.

 

Als ehemaliger Klosterschüler von Engelberg hatte Pa eine schwierige Beziehung zur Kirche. «Mein Bedarf an Gottesdiensten ist mehr als gedeckt», liess er uns wissen. Und das war noch einer der harmloseren Sätze, die ihm zum Thema Kirche über die Lippen kamen. Er hat sich so intensiv mit dem Katholizismus und seinen Dogmen beschäftigt, dass es nur logisch und konsequent war, dass er eines Tages aus der Kirche austrat. Auch uns Kindern legte er diesen Schritt immer wieder nahe, ja nötigte uns beinahe dazu. Er formulierte für uns und seinen Bekanntenkreis sogar fixfertige Austrittsschreiben mit Textbausteinen und individuellen Begründungen zum Ankreuzen. «Ihr müsst das Papier nur noch unterschreiben und abschicken.»

 

Pa war unterhaltsam, witzig, mit ihm konnte man sich köstlich amüsieren. Sein Humor, seine Schlagfertigkeit waren ein Segen. Er hatte die Gabe, im richtigen Moment den richtigen Spruch zu platzieren. Pa konnte uns aber auch zur Weissglut treiben. Das war der Fall, wenn er sich in einem Gespräch in einen Standpunkt verbiss. Wenn wir ihn dann kritisierten, dass er es mit seiner Sturheit, seinem Nachhaken und Nachbohren nun wirklich auf die Spitze trieb, konnte er beleidigt reagieren: «Gut, dann reden wir halt übers Wetter». Manchmal nahm Pa in einer Diskussion bewusst die gegenteilige Meinung ein, nur um zu provozieren, um künstlich Opposition zu erzeugen und zu beobachten, wie sich das Gegenüber in eine hoffnungslose Argumentationsschlinge manövrierte.

 

Pa hatte auch eine skurrile Seite, war sorglos, ja kopflos. Von Finanzen – Haushaltsbudget, Steuern und dergleichen – hatte er keine Ahnung, wollte er keine haben. Er war kein Zahlenmensch. «Uns geht es gut. Was will ich mehr?» Zum Velofahren trug er keinen Helm und unzählige, zum Glück harmlose Stürze konnten ihn nicht zur Vernunft bringen. Auf Sonnencreme wurde konsequent verzichtet. Alles, was nach Prävention klang, war ihm suspekt. Pa rauchte «Camel», moderat, aber sicher dann, wenn er mit dem Mini, Peugeot oder VW Golf Benzin tankte.

 

Die Grosskinder waren Fan von Grapa. Und sie schmunzelten immer wieder über seine Eigenheiten. Es war klar, dass sie es nicht mit einem klassischen «Grosspapi» zu tun hatten: Mit Grapa baute man keine Sandburgen, mit Grapa ging man nicht auf den Spielplatz, mit Grapa debattierte man, über Gott und die Welt. Allgemeinwissen war ihm wichtig. Äusserst besorgt zeigte er sich, wenn er bei den Enkeln – aber auch bei uns Kindern – auf (wie er dann sagte) «hochnotpeinliche Bildungslücken» stiess. Ob Sonderbundskrieg, Reformation, Hitler-Deutschland, Generalstreik, Weltwirtschaftskrise, den Weg der Schweiz vom Staatenbund zum modernen Bundesstaat: Pa wusste Bescheid.

 

Geschichte war schon in der Stiftsschule Engelberg sein Lieblingsfach. Im Maturazeugnis, ausgestellt 1955 vom «Erziehungsrat des Kantons Unterwalden ob dem Wald», hatte er eine glatte 6 (in Mathematik immerhin eine 4). Gerne gab er auch Müsterchen in Lateinisch oder Griechisch zum Besten. Für die Kommunikation in den Ferien in Italien oder Frankreich brachten seine Kenntnisse in den antiken Sprachen natürlich herzlich wenig. Aber seine Rezitationen sorgten immer wieder für Heiterkeit.

 

Fiat lux: es werde Licht (lat.)
Chaire Fos: Gegrüsst seist Du, Sonne (griech.)
De mortuis nil nisi bene: Nur Gutes über die Toten (reden) (lat.)

 

Oder der Anfang aus der Odyssee von Homer:

 

Andra moi ennepe, Musa,
polütropon, hos malla polla
planchtä, epei Trojäs (…)

 

Autoritäres Auftreten war Pa fremd. Musste in der Erziehung wirklich mal Klartext gesprochen werden, überliess er das Ma, unserer Familienmanagerin. Nur einmal intervenierte Pa: in den Ferien in der Toskana. Als wir uns an einem Abend für ein Essen in einem Restaurant parat machten, meldete er sich plötzlich zu Wort. Er wünsche, dass seine drei Töchter ein «Röcklein» anziehen. Wir dachten: Was soll denn das? Selbst Ma schüttelte verwundert den Kopf. Wir ignorierten Pa und zogen Bluejeans an. Er kapitulierte. Die Rolle des pater familias, der den Tarif durchgibt, passte doch gar nicht zu ihm.

 

Das hatte sicher auch mit der Art und Weise zu tun, wie Pa selber aufwuchs. In Küssnacht a.R., in einer gutbürgerlichen, angesehenen Familie: S’ Windlins vom Adler. Seine Mutter Theres kümmerte sich um das Gasthaus am Dorfplatz. Sein Vater Otto führte die Käserei, war Schweinemäster und bekleidete beim Bezirk das Amt des Säckelmeisters. Mit seinen fünf Geschwistern Theres, Otto, Urs, Klara und Kari verbrachte Pa eine schöne Kindheit. Bis die Familie von einem Schicksalsschlag getroffen wurde: Im Jahre 1942 – Pa war acht Jahre alt – starb sein 42-jähriger Vater überraschend an einem geplatzten Blinddarm. Mutter Theres blieb mit sechs unmündigen Kindern zurück. Zum Glück fand Theres mit Franz Meyer schon bald einen tollen zweiten Ehemann und einen liebevollen Stiefvater für ihre kleinen Kinder. Dank Franz Meyer gesellte sich zur Familie sogar noch ein Halbbruder, der emotional natürlich ein ganzer Bruder war: Franz junior, mein Götti.

 

Als einziger der mittlerweile sieben Kinder ging Pa aufs Gymnasium und genoss eine akademische Ausbildung. Er studierte Jus in Freiburg. In der Studentenzeit lernte Pa (vulgo Knorrli) Freunde fürs Leben kennen: Peter Rück, Werner Schwander (Petz), Markus Kessler (Coci) ), Rainer Schuhmacher (Röschti), Bruno Geiser (Atlas). Nach der Dissertation, dem Abschluss seiner «Militärkarriere» (Pa: «Ich leistete 1048 Diensttage – das sind fast 3 Jahre», wobei: den Grad des Hauptmanns bekam er als militärischer Untersuchungsrichter, wie er uns augenzwinkernd gestand, geschenkt) und einem Abstecher an die Sorbonne stieg Pa ins Berufsleben ein. Zuerst arbeitete er in Küssnacht als Landschreiber, dann in Sarnen als juristischer Berater der Obwaldner Regierung, dann in Zug als Sekretär bei der Baudirektion; für den von ihm hoch geschätzten Regierungsrat Alois Hürlimann. Nebenbei – sozusagen als Hobby – politisierte Pa im Rischer Gemeinderat. Zwei Jahre lang war er, wie ich später realisierte, sogar Gemeindepräsident. Im Jahre 1977 – Pa war 42 und wir vier Kinder zwischenzeitlich alle auf der Welt – wurde er, portiert von der CVP, zum Landschreiber des Kantons Zug gewählt.

 

Pa war ein leidenschaftlicher Jurist und liess uns intensiv an seinem von Politik geprägten Berufsalltag teilhaben. Am liebsten zog er am Familientisch über einzelne Mitglieder der Zuger Regierung her. Namen werden an dieser Stelle selbstverständlich keine genannt. «Intellektuelle Armleuchten. Schlichte Gemüter. Kulturbanausen! Haben null Courage!» Wenn er etwas gar offenherzig über strittige oder gar vertrauliche Regierungsratsgeschäfte plauderte, mahnte Berti: «Erzählt dies bloss nicht in der Schule!» Ein Spruch, der bei uns natürlich zum Klassiker wurde.

 

Hans bewunderte Berti. Ja, er prahlte auch gerne mit ihr. Er schätzte sich mehr als nur glücklich, dass er – als einer unter vielen Aspiranten – 1962 das Rennen um die älteste Tochter von Metzgermeister Alois Dober gemacht hatte. Berti, aufgewachsen im nahegelegenen Restaurant / Hotel Falken, entsprach in jeder Hinsicht seinen Vorstellungen und man muss sagen, seine Ansprüche waren hoch: gescheit, selbstbewusst, tüchtig, attraktiv. Wenn sie von Bekannten auf ihre Rolle als «nur» Hausfrau und Mutter angesprochen wurde, fuhr Pa sofort dazwischen und stellte klar: «Berti ist eigentlich viel schlauer als ich und hätte, wenn ihr die Ausbildung dazu ermöglicht worden wäre, beruflich problemlos gleich mehrere Karrieren einschlagen können: als Köchin, Wirtin, Dolmetscherin, Diplomatin im auswärtigen Dienst.» Pa hatte recht. Berti schlug Pflöcke ein. Als wieder einmal die ewigen Kirchendiskussionen losgingen, meinte sie: «Wenn Du schon aus der Kirche austrittst, dann kannst Du auch gleich zur Offiziersgesellschaft austreten». Pa hörte – wie so oft – auf Ma. Die vielen Qualitäten und der Drive, über den unsere Mutter verfügt, hatten auch eine Kehrseite: Sie liessen unseren Pa etwas passiv werden. Und manchmal schenkte unser Vater unserer Mutter nicht jene Aufmerksamkeit, die sie verdient gehabt hätte. Umgekehrt zeigte sie sich nachsichtig und tolerant, wenn es sein Verhalten erforderte.

 

25 Jahre lang war Pa Landschreiber – ein treuer Staatsdiener? Durchaus. Vor allem aber ein unbequemer, unorthodoxer kantonaler Angestellter, der sich lustvoll über so manche Konventionen hinwegsetzte und sich den Luxus einer eigenen Meinung leistete. Die Journalisten liebten ihn, denn er war immer gut für ein knackiges Quote und eine schmissige Schlagzeile. Kurz: Pa war ein Beamter, wie er heute gar nicht mehr vorstellbar wäre.

 

Ein paar Müsterchen:

 

Legendär ist sein Einsatz für eine junge Frau, die am Schalter der Staatskanzlei abgewiesen wurde. Sie wollte im Amtsblatt einen Aufruf platzieren: «Lesbische Frauen und schwule Männer gesucht». Sinn und Zweck des Inserats: engagierte Leute zu finden, die bei der Unterschriftensammlung für die Petition «Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare» mithelfen. Der Adjunkt der Staatskanzlei vertrat die Ansicht, der Inhalt – wir sprechen vom Jahre 1994 – verstosse gegen Sitte und Moral. Pa sprach Klartext: Der Aufruf und das damit verbundene Anliegen seien nicht nur juristisch völlig unproblematisch, sondern aus demokratischer Sicht absolut legitim.

 

Immer wieder hatte Pa das Herz auf dem rechten Fleck und stellte gesunden Menschenverstand und Pragmatismus vor ordnungspolitische Überlegungen. Als er von einer verzweifelten Mutter angefragt wurde, ob es in der Staatskanzlei nicht eine Beschäftigung für ihren geistig leicht behinderten Sohn gebe, bot Pa sofort Hand und spannte André – so hiess der junge Mann – ein: zum Fotokopieren, Papierkörbe leeren und Kaffee kochen. Als das Personalamt davon hörte, gab’s Ärger. Der Vorwurf: Pa hatte sich um eine geltende Personalverordnung foutiert und sich über einen kantonsrätlichen «Personalstellenplafonierungsbeschluss» hinweggesetzt. Pa liess sich nicht beirren und sorgte mit einem juristischen Kniff dafür, dass der beeinträchtige André als Hilfskraft bleiben konnte – und mit einem angemessenen Stundenlohn entschädigt wurde.

 

Für Irritation sorgte er auch, als wieder einmal hoher Staatsbesuch auf dem Programm stand und die Zuger Regierung die Kollegen aus dem Kanton Glarus empfing. Wie immer hatte Pa als Landschreiber adäquate Geschenke zu organisieren. Doch diesmal weigerte er sich, die Gäste mit der üblichen Kirschflasche von «Etter» zu beglücken. Begründung: «Die verstauben doch sowieso in der Hausbar». Stattdessen kaufte er unzählige CD’s des Zuger Musikers Hans Kennel, den er zuvor an einem Konzert kennengelernt hatte und sympathisch fand. Kennel galt als Avantgardist, lotete die Grenzen zwischen Jazz und Volksmusik aus und schlug auf Trompete, Alphorn und Büchel schräge, experimentelle Töne an. Pa wusste, dass dieser Sound für die Ohren des offiziellen Besuchs aus Glarus natürlich eine Zumutung war. Sein Kommentar: «Das ist Kulturförderung!» Er hatte einen guten Riecher: Ein paar Jahre später gewann Kennel den Innerschweizer Kulturpreis.

 

Pa war kein Technokrat und daher in der Verwaltung immer wieder ein Aussenseiter. Pointiert sprach er sich in diversen Aufsätzen gegen das in den 1990-er Jahren kursierende «New Public Management» aus – kurz NPM –, eine Art Heilslehre, die damals in aller Munde war. Auch die Zuger Regierung wollte mit der «strategischen Neuausrichtung» aus dem angelsächsischen Raum die Zuger Verwaltung auf Effizienz trimmen. Pa befasste sich mit dem Papiermonster und entlarvte es als Pseudoreform: «Alles Humbug, heisse Luft, gehobene Makulatur!» Nicht die Verwaltung oder gar Bürger würden von diesem Unsinn profitieren, sondern die Berater, die sich mit wohlklingenden und ausschweifenden Handlungsempfehlungen eine goldene Nase verdienten. Effizienz erreiche man nicht mit solchen Rohrkrepierern, sondern indem man weniger Sitzungen einberufe und stattdessen fokussiert das zuweilen auch mühselige Alltagsgeschäft erledige. Recht hatte er! Wegen solcher Geschichten – es gäbe noch zig andere – waren wir immer wieder stolz auf Pa. Er hat uns eine wichtige Lektion erteilt: manchmal darf, nein manchmal muss man gegen den Strom schwimmen.

 

Seine Arbeit bedeutete Pa – auch wenn er sich oft ereiferte oder gar ärgerte – viel. Sein grosses und stilvolles Büro im Regierungsgebäude, mit Seesicht und Vogelgezwitscher von der nahegelegenen Volière, war eine Art zweites Zuhause für ihn. Wenn er nicht von Telefonaten unterbrochen werden wollte, packte er kurzerhand seine sieben Sachen und dislozierte ins nahegelegene Mövenpick. Dort traf er sich zum Austausch mit dem juristischen Sekretär der Finanzdirektion: Dieter Delwing. D.D. – gebürtig aus Saarbrücken – wortgewandt, scharfsinnig, charmant, voller Esprit, Schalk und erlesener Eleganz. Er sollte im Laufe der Jahre Pas bester Freund werden.

 

Es war klar – und auch ganz im Sinne unsrer Mutter – dass Pa nach seiner Pensionierung ausser Haus weiterarbeitete. Zusammen mit Dieter eröffnete er eine kleine Anwaltskanzlei am Gubelloch. Im Büro dort wurde dann wieder gehirnt, spintisiert, fabuliert und formuliert, und – ganz wichtig – regelmässig zum Apéro geladen. Wirklich Geld verdienten die beiden Juristen – spezialisiert auf Verwaltungs- und Staatsrecht – mit ihrer Tätigkeit nicht. Pa hatte trotzdem seine Freude: «Wenn wir mit unseren Aufträgen die Büromiete reinholen, ist das Ziel erreicht.»

 

Pa war bekanntlich CVP-ler. Aber er war kein typisches Parteimitglied. Zum christlichen «role model» taugte er – aus verschiedenen Gründen! – nicht. Dazu war er zu frech, zu wenig konform, manchmal auch zu egoistisch. Ganz abgesehen davon hegte er immer wieder starke Sympathien für die Linken und Alternativen. Also für jene Kreise, die schon früh gewisse Praktiken auf unserem schönen Zuger Finanzplatz anprangerten. Während diese kritischen Geister von Pas Parteikollegen als Nestbeschmutzer verunglimpft wurden, setzte sich unser Vater mit dem Thema auseinander. «Es ist wichtig, die Machenschaften gewisser Briefkastenfirmen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen». Charakterköpfe wie Hanspeter Uster, Jo Lang oder Kantonsräte wie Toni Kleimann und Dani Brunner prägten und beeindruckten ihn - ebenso selbstbewusste, aufmüpfige Frauen wie Claudia Schmid, Madeleine Landolt, Anne Ithen oder Sybilla Schmid, die mit ihren Forderungen immer mal wieder für Aufregung sorgten.

 

Pa war auch eine Diva. Er kultivierte seine Defizite – und er hatte einige. Hans war – ich muss es leider sagen, und er würde nicht widersprechen – ein sehr schlechter Autofahrer. Die Gangschaltung blieb für ihn zeitlebens ein Rätsel. Und er schaffte es immer mal wieder, die Strecke Buonas-Zug mit Volllicht und / oder laufendem Blinker zurückzulegen. Dafür nahm er gerne auch Autostöppler mit, die am Strassenrand auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. Handwerklich war er ungeschickt, am Kochherd nicht einsetzbar, am PC überfordert. Hans verzichtete bis zu seinem Lebensende auf ein Handy – zum Glück, kann man da nur sagen. Das Festnetztelefon und der Fernseh-Apparat mit Fernbedienung waren Herausforderung genug. 

 

Dieses ausgeprägte Desinteresse, ja die Abneigung gegen Technik, waren genauso charakteristisch für Pa wie seine Leidenschaft für Literatur und Literaten: Robert Walser, Niklaus Meienberg, Karl Heinz Deschner, Hans Magnus Enzensberger, Ferdinand von Schirach, Philipp Roth, Arno Plack, Yasmina Reza. Er verschlang Bücher, die Bücher verschlangen ihn. Das Literarische Quartett mit Marcel Reich-Ranicki war Pflicht. In der Buchhandlung Schmidgasse, die später an die Oswaldsgasse dislozierte, war er Stammgast. Jedes einzelne Buch aus seiner Bibliothek stattete er mit seinem Buchzeichen «Ex Libris – Hans Windlin» aus, damit es bei einer «Ausleihe» auch sicher wieder zu ihm zurück fand. Wenn ihn ein Buch packte, las er es nicht einmal, sondern zweimal, dreimal. Begründung: «Es wird immer besser!» Zur Pflichtlektüre gehörten natürlich auch die Zeitungen, die das gesamte Meinungsspektrum von links bis rechts abdeckten: NZZ, Vaterland, Weltwoche, Spiegel, WOZ - ergänzt von den lokalen «Käseblättern».

 

Hans war Leser, Schreiber, vor allem – bis zum Schluss – ein Suchender. Was suchte er? Austausch, Anerkennung, Zuspruch, Widerspruch, die Wahrheit. Stichwort: Die Hoffnung stirbt zuletzt, die Wahrheit zuerst. Von diesem Suchen und Zweifeln zeugen unzählige Briefe und Aufsätze, die er verfasste und die – Pa sei Dank – alle im Familienarchiv in vier dicken Bundesordnern abgelegt sind. Das Archiv ist ein Vermächtnis. Die Dokumente, die sich darin finden, offenbaren Pas originelle, bizarre, manchmal hochobskure Gedankenwelt, ebenso das ganze Spektrum von Gemütszuständen, in denen sich Pa je nach Lebensphase befand. Mal gibt er sich in den Schriftstücken kämpferisch, angriffslustig und zynisch, dann wieder ironisch, versöhnlich oder heiter; stets angetrieben von einer unbändigen Lust am Formulieren. Absender: «Ha-Wi Citoyen und Chancelier.» Oder – ebenfalls nicht ganz ernst gemeint: «Höchster Beamter des kleinsten Vollkantons».

 

Bei aller Streitlust, die ihn manchmal packte – sie war auch ein Zeichen von Vitalität – war Pa ein Mensch, der sich absolut bewusst war, wie gut es das Leben mit ihm meinte. «Andere haben in ihrem ganzen Leben nicht halb so viel Glück wie ich», sagte er oft. In unspektakulären Momenten strahlte er die blanke Zufriedenheit aus: wenn er den Rasen mähte, wenn er den Vorplatz mit dem Besen wischte – akribisch, bis kein Blättchen mehr am Boden lag. Wenn er sich mit uns ins Schlauchboot setzte und auf der Maggia treiben liess, wenn er sich am Sonntag ans Klavier setzte. Wenn er eine Hochgebirgs- oder Klettertour unternahm, wenn es Besuch von den Michels oder Schweglers gab, wenn er das Cheminée anzündete. Vor allem aber auch, wenn er mit Ma «Programm» hatte: eine Kanufahrt ins Baumgärtli, eine Velotour zum Reussspitz, ein Theaterstück im Schauspielhaus, eine Kunstausstellung in der Fondation Beyeler, ein Konzert von den Kammersolisten, eine Lesung mit Thomas Hürlimann, ein Wochenende in La Punt, ein Städtetrip nach Berlin, Paris, Florenz, später dann Perth, Melbourne.

 

Brauchte Pa seine Ruhe, packte er den Rucksack und verreiste Richtung Obwalden (wir Windlins sind ja «Tschifeler»). Es zog ihn wieder nach Engelberg. Hier stand sein geliebtes «Hirmi»: das kleine Holzhaus am sonnigen «Bord», das er als Dauermieter nutzte. Das Hirmi war sein Rückzugsort, sein Reduit. Hier konnte er seinen Gedanken nachhängen, die Seele baumeln lassen, ausgedehnte Wanderungen bis zum «Ende der Welt» im Horbis unternehmen, in die Seilbahn steigen, Holz hacken, den Ofen einfeuern, im USEGO-Laden einkaufen, endlich einmal als Hausmann wirken, Schweinswürstchen und Päcklisuppe kochen, ein Spiegelei in die Pfanne hauen – bei offenen Fenstern in voller Lautstärke seine Lieblingsmusik laufen lassen: Hans Kennel, Paolo Conte, Glenn Gould, Giora Feidmann, Bach, Vivaldi, Händel. Ins Hirmi, so betonte er aber auch stets, gehe er so gerne, weil er sich dann immer wieder auf Berti freuen könne.

 

Ein Ereignis, das Pa in eine tiefe Krise stürzte, war 2006 der Tod von Dieter. D. D war nicht nur Freund, er war Vertrauter, Seelenverwandter, Sparringpartner, Vorbild, ja man könnte fast sagen, ein Idol. Mit ihm ging er durch dick und dünn. Dieter hinterliess eine Lücke, die niemand füllen konnte. Der Tod des bestens Freundes – Pa war 72 – markierte auch den Anfang von Depressionen, mit denen Pa fortan zu kämpfen hatte. Ein stilles Leiden, das sich da in sein sonst sehr privilegiertes Leben schlich.

 

Die emotionalen Tiefs – verbunden mit tage- oder wochenlanger Antriebslosigkeit – waren auch für Ma nicht einfach und stellten die Ehe auf eine harte Probe. Vor allem in den letzten zehn Jahren hat unsere Ma alles unternommen, um Pa zu aktivieren. Manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg. Unternehmungslustig war Pa vor allem dann, wenn andere schliefen. Er «geisterte» dann als Nachtwandler umher. «Ich bin eben nachtaktiv», meinte er dann scherzhaft. Was lustig klang, war Teil eines gesundheitlichen Problems mit dem Namen Schlafstörungen. Sie beeinträchtigten Pas Lebensqualität massiv. Medikamente halfen nur bedingt.

 

Am 19. März dieses Jahres feierten wir mit Pa seinen 89. Geburtstag. Ein friedlicher, harmonischer Abend am Rothusweg. Pa wurde ja zwischenzeitlich doch noch altersmilde. Es war aber auch offenkundig, dass er nicht mehr viel Energie hatte. Er, der sonst immer als letzter den Tisch verliess, stand plötzlich auf, sagte, er sei müde und legte sich ins Bett. Eine Woche später hatte Pa einen Hirnschlag. Eine Odyssee (diesmal die eigene, nicht die von Homer) begann: von Klinik zu Klinik, von Arzt zu Arzt, von Therapie zu Therapie, von Heim zu Heim. Pa war tapfer. Aber seine Lebenskraft und vor allem auch Lebensfreude schwanden zusehends. Die Pflegebedürftigkeit und die sinkende Selbstständigkeit deprimierten ihn – daran konnten auch unsere regelmässigen Besuche im Altersheim Neustadt nichts ändern, wo er zwischenzeitlich ein schönes Zimmer bezogen hatte.

 

«Mein Bedarf an Lebenszeit ist gedeckt» war ein Satz, den wir nun immer häufiger hörten. Im Juni wurde Pa schliesslich deutlicher und meinte: «Ich bin seinerzeit nicht aus Spass Mitglied bei Exit geworden». «Ich möchte jetzt abtreten, selbstbestimmt. Besser wird es nicht.» «Vorwärts marsch!», notierte er auf einen Zettel, der auf seinem Nachttisch lag. Griffbereit noch ein einziges Buch: «Diktate über Sterben und Tod» von Peter Noll mit der berühmten Totenrede von Max Frisch. Für uns war klar. Wir können Pa nicht umstimmen. Wir müssen diesen Wunsch respektieren. Und wir wollten Pa auf dieser Reise begleiten. Am 17. August versammelten wir uns mit Pa ein letztes Mal zu einem Festessen am Rothusweg. Weisses Tischtuch, Blumen, Champagner, Rotwein, Cognac, und natürlich eine «Camel». Am nächsten Tag ist Pa im Kreise seiner Familie für immer eingeschlafen.

 

Am Abend trafen wir – Kinder, Partner, Grosskinder – uns in Oberwil am Zugersee. Wir gingen schwimmen, schauten in die Dämmerung – den fliessenden Übergang vom Tag zur Nacht – , beobachteten das wunderschöne Farbspektakel in gelb, orange und rot und warteten, bis die Sonne langsam am Horizont verschwand.