PUBLIKATION

Magazin Andante

ZUSAMMENARBEIT

Severin Jakob (Foto)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

15.11.2022

AUFGEBEN WAR NIE EINE OPTION

 

Markus Hottiger musste sich nach einem Hirnschlag im Sommer 2010 von seinem «alten» Leben verabschieden. Aufgeben war für den ausgebildeten Primarlehrer und Heilpädagogen nie eine Option.

 

Die Befürchtung der Interviewerin, sie könnte Markus Hottiger im Gespräch nicht genügend Infos aus seinem Lebensdrehbuch entlocken, entpuppt sich schnell als unbegründet. Zwar ist der bärtige Aargauer, der im Sommer 2010 einen Hirnschlag erlitten hat, beim Sprechen stark beeinträchtigt – die Sätze gehen ihm nicht einfach von den Lippen, er gerät manchmal ins Stocken und ringt nach Worten –, aber Markus ist ein ausgesprochen lebhafter und motivierter Kommunikator. Er, so macht es jedenfalls den Anschein, erzählt gerne über sein Leben: Was war, was jetzt ist und was alles noch sein könnte.


Auf das Gespräch, das wir im Tageszentrum der Stiftung andante in Winterthur führen, hat sich Markus vorbereitet und fischt gleich zu Beginn einen zweiseitigen Lebenslauf aus seiner Tasche. Ein kurzer Blick reicht und es wird klar, dass einem hier ein Mensch gegenübersitzt, der beruflich und privat viel erlebt und ein von Veränderungen und Neugierde geprägtes Leben führt. Die wichtigsten Eckpunkte des «CV», wenn er schon vorliegt, in Kürze: Geboren in Oftringen AG, Ausbildung zum Primarund Sekundarlehrer, Studium der Heilpädagogik, Lehrertätigkeit an diversen Schulen, Konferenztätigkeit und Mitwirkung in diversen Arbeitsgruppen und Förderprojekten.

 

Was im CV fehlt: das Ereignis vom 19. Juli 2010. An diesem Tag erlitt Markus auf einer Schifffahrt einen Schlaganfall mit gravierenden Folgen, unter anderen einer Lähmung der rechten Körperhälfte und einer – zumindest in den ersten Jahren danach – kompletten Aphasie. Nur dank intensivem und jahrelangem Therapieprogramm mit Ergotherapie, Physiotherapie und Logopädie lernte Markus allmählich wieder sprechen, mit der linken Hand schreiben und mailen, wobei er am PC das Fünffingersystem benutzt. Ohne seine Frau Susanne, das betont er mehrmals, hätte er den Schicksalsschlag nicht so gut verarbeitet. Seit 1981 sei er glücklich mit ihr verheiratet.


Eine positive Grundeinstellung und viele gute Ideen für die gemeinsame Freizeitgestaltung prägen ihre Beziehung. Dreimal in der Woche fährt er selbstständig im Rollstuhl mit dem ÖV von seinem Wohnort Neuenhof AG ins andante Tageszentrum und betätigt sich dort vor allem in den Kreativateliers. Er schätzt den Tapetenwechsel, den Austausch mit Gleichgesinnten und schwärmt vom Personal. Die Kunstwerke, die er dort realisiert – hochpräzise und formschöne Linol- und Holzschnitte –, zeugen von Talent, gestalterischem Feinsinn und Fleiss. Auch der christliche Glaube, der bei Markus eine wichtige Rolle im Leben spielt, ist in einigen Werken präsent, sei es in Form von Psalmen oder Motiven mit Josef, Maria und Jesus. Wenn Markus nicht im Tageszentrum ist, nimmt er Gesangsunterricht, sammelt Briefmarken, liest Krimis, besucht die Oper, geniesst die Ruhe in der barrierefreien und grossräumigen Eigentumswohnung oder geht auf Reisen. Welche Aktivitäten auch immer anstehen, wichtig sind Pausen, in denen er sich erholen kann, und genügend Schlaf.


Es stimmt schon: Die Unterhaltung mit Markus erfordert vom Gegenüber Geduld, eine Anpassung an sein Kommunikationstempo und die Fähigkeit oder zumindest Bereitschaft, eine Aussage, die vielleicht nicht so präzis formuliert ist, richtig interpretieren zu können. Umso wichtiger sind nonverbale Hinweise, die eine mindestens so starke Aussagekraft haben. Bei Markus sind es die freundliche, melodiöse Stimme, das heitere Lachen und seine wachen, hellen Augen. Sie leuchten vor allem dann auf, wenn er von Susanne erzählt. Ob er das Leben mit ihr wieder geniessen kann? Jetzt antwortet Markus wie aus der Pistole geschossen: «Klar! Ich würde ihr, wenn ich könnte, ein Kränzchen winden.»