PUBLIKATION

GGZ Jahresbericht

ZUSAMMENARBEIT

Benni Weiss (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.4.2022

BEWäHRUNG AUF DEM BERG

 

Ein Augenschein am neuen Standort der therapeutischen Entzugsstation Sennhütte auf dem Zugerberg zeigt: Personal und Bewohner haben sich eingelebt und schätzen das Mehr an Platz und Angebot. Schwerstarbeit bleibt Suchttherapie aber auch in der idyllischen Waldlichtung.

 

Es ist ein bitterkalter und etwas unfreundlicher Januarmorgen, als es mit dem alten Renault Twingo um 8 Uhr Richtung Zugerberg geht. Bäume und Wiesen sind ordentlich mit Schnee bedeckt, doch zum Glück hat der Winterdienst bereits die Strasse geräumt. Weisse Wolken schweben regungslos im windstillen Himmel und machen keinerlei Anstalten, zu verschwinden. Doch nach zwanzig- minütiger Fahrt erhellt sich plötzlich der Horizont und es dringen unverhofft ein paar Sonnenstrahlen durch die Tannen. Das Ziel, die Waldlichtung mit dem stattlichen Baumbestand, ist jetzt in ein sanftes Licht getaucht und erscheint in romantischer Farbigkeit – grad so, als hätte der berühmte englische Landschaftsmaler William Turner zum Pinsel gegriffen.

 

Zwei Jahre ist es her, seit die Sennhütte ihren alten, gleichnamigen Standort auf 850 Metern über Meer verlassen und sich neu im Unterhorbach auf 950 Metern eingerichtet hat. Weg von einem Haus, das dem Kanton Zug gehört, hin zur GGZ-eigenen Liegenschaft, die Adelheid Page einst als Privatsitz diente und zuletzt Standort der Horbach Schule war. «Der Wechsel war ein guter Entscheid», betont Daniel Kilchmann, Geschäftsführer der Institution, und führt in sein Büro im Administrativtrakt. Der 38-jährige Luzerner freut sich über Besuch, gibt gerne Auskunft und schafft es spielend, die von ihm geführte Institution auch gegenüber der Öffentlichkeit professionell und sympathisch zu repräsentieren. Rund 4,2 Millionen Franken hat die GGZ in die Sanierung des 60 000 Quadratmeter grossen Anwesens, das mehrere Häuser umfasst, investiert. Im Zentrum standen Arbeiten an der Bausubstanz samt Fassaden und Dächer, ein angepasstes Raumprogramm sowie der Einbau einer neuen Heizung mit Erdwärme.

 

Fünfzehn suchtmittelabhängige Menschen wohnen und arbeiten hier, wollen ihrem Leben eine neue Wende geben, Perspektiven erkennen, Verhaltensmuster hinterfragen und diese in Konfrontation mit sich selbst und mithilfe individueller Therapiearbeit nachhaltig verändern. Ob Opiate, Kokain, Alkohol, Medikamente, Amphetamine, Cannabis, Halluzinogene, Ecstasy oder andere «Designerdrogen» – die konsumierten Mittel sind immer nur ein Teil des Problems. Hinzu kommen psychische Probleme oder konkrete medizinische Diagnosen, mit welchen fast alle Betroffenen aufgrund ihrer Biografie mit belastenden Erlebnissen in der Jugend oder Kindheit zu kämpfen haben. Viele Bewohnerinnen und Bewohner haben schon mehrere Entzüge hinter sich und wissen, wie anspruchsvoll ein Neustart ist. Hier im Unterhorbach, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, tagsüber aber lauthals die Hühner gackern, schöpfen sie abermals Hoffnung und setzen alles daran, in der Gemeinschaft auf Zeit aus der Sucht-Sackgasse herauszukommen.

 

Gewiss: Das Betriebskonzept ist noch immer das alte, denn es hat sich bewährt. Abstinenzorientiert werden Frauen und Männer auf dem Weg zur Genesung auch am neuen Ort von einem interdisziplinären Fachteam umfassend beraten und unterstützt. Die überschaubare Grösse ermöglicht eine individuelle und intensive Betreuung. Wie zuvor gilt ein klar strukturierter, detailliert geregelter Tagesablauf. Trotzdem ist hier einiges anders. Die Natur ist noch präsenter und fliesst als Ressource bewusst in die therapeutische Arbeit ein. Zudem wurden fünf neue Therapieplätze geschaffen, denn die Liegenschaft bietet deutlich mehr Raum zum Wohnen, Arbeiten und Verweilen. Zusätzlich stehen fünf Tagesplätze zur Verfügung: ein Angebot für Personen, welche nur die Tagesstruktur nutzen, abends aber nach Hause gehen. Unverändert hoch ist die Auslastung der Institution. Diese liegt seit Jahren bei 95 Prozent; eine wichtige Kennzahl, denn seit 2020 wirtschaftet man ohne den Betriebskostenbeitrag des Kantons, der früher regelmässig mit 280 000 Franken zu Buche schlug.

 

Büros, Werkstätten, Kreativräume, Schlaf- und Therapiezimmer, Küche, Ess- und Aufenthaltsraum – dies alles ist nun räumlich voneinander getrennt oder zumindest so konzipiert, dass man sich nicht ständig in die Quere kommt. «Dadurch hat sich auch die Kommunikation verändert. Man läuft sich nicht wie früher automatisch über den Weg und wird weniger unterbrochen», sagt Kilchmann. Mehr Konzentration und Fokussierung ist also möglich, was in Bezug auf das Beschäftigungsprogramm definitiv ein Vorteil ist. Hier wird gekocht und es riecht nach Curry. Da wird gemalt, gehobelt, meditiert, geputzt, konzentriert fürs Fernstudium gelernt oder Holz gehackt. Viel Wert wird auch auf eine vielseitige Freizeitgestaltung gelegt, weshalb Velos, Campingzubehör, Kletterutensilien, Slackline, Töggelikasten, Billard- und Pingpongtisch zur Verfügung stehen, ferner ein bescheidenes Zimmer mit Fitnessgeräten und eine kleine Sauna mit Platz für zwei Personen. Wohlgemerkt: Mobiliar und Equipment wurden im ganzen Haus zweckmässig und kostenbewusst gewählt, vieles ist secondhand. Behaglichkeit strahlt der getäferte Dachstock im Wohnhaus aus. Er ist mit Arbeitsplätzen und einer Galerie ausgestattet, auf der sich eine Schlafnische für jene Sozialpädagogen befindet, die hier übernachten. Die 24-Stunden-Aufsicht durch eine Person ist auch im Unterhorbach garantiert.

 

Auszug – Umzug – Einzug. Wie haben die Bewohner das Prozedere erlebt und mitgestaltet? «Positiv und engagiert», heisst es seitens der Mitarbeitenden. Schon im Vorfeld habe man gemeinsam den neuen Standort besucht, beim Projektteam Ideen für die Nutzung und Einrichtung der Räume eingespeist und sich eingehend mit dem vorgeschlagenen Farbkonzept auseinandergesetzt. Die Befürchtung, dass ein Teil der Klienten die Therapie bewusst vor der grossen Züglete beendet, um den Umtrieben zu entkommen, hat sich jedenfalls nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die Leute freuten sich, in den Prozess einbezogen zu werden, und waren neugierig auf den Unterhorbach. Dies führte dazu, dass man den ganzen Umzug ohne externe Hilfe stemmte – mit GGZ-eigenen VW-Bussen und Anhängern, zupackend mit viel Köpfchen, Motivation und Muskelkraft. Auch bei den Abbrucharbeiten halfen einige Bewohner unter Anweisung der involvierten Handwerksbetriebe mit. Dass sich die gesamte Umbauphase deutlich in die Länge zog, da die bauliche Substanz der alten Häuser nicht überall den Erwartungen entsprach, war für die Verantwortlichen ein wenig mühsam, hat man aber letztlich auch gemeistert.

 

Blicken wir nach vorn und stellen uns vor, wie die Natur auf dem weitläufigen Gelände im Frühling zu frischem Leben erwacht. Dies ist der Moment, in dem auch das ambitionierte Gartenprojekt vorangetrieben wird und die Bewohner die grosszügigen Beete mit neuen Pflanzen, Setzlingen und Samen bestücken werden. Bereits am alten Standort galt es, einen 150 Quadratmeter grossen «Pflanzblätz» zu bewirtschaften. Doch jetzt ist die Fläche mit 600 Quadratmetern rund viermal so gross und es kommen weitere Sektoren mit Gemüse, Gewürzen, Obst und Beeren dazu. Eine Menge Arbeit!

 

Aber nicht nur: Die Gartenarbeit erwies sich bei den Bewohnern als sinnstiftend und beliebt.

Schliesslich finden die Produkte früher oder später den Weg auf den Speiseplan oder werden erntefrisch als Zwischenmahlzeit verspiesen. Gelohnt hat sich die seriöse Anbauplanung, um zu

wissen, welche Pflanzen gut miteinander gedeihen, so dass erfolgreich Mischkultur betrieben wird. Ein paar Leute scheinen hier den «grünen Daumen» zu haben. Noch im Dezember, berichten

Klienten, holte man den letzten Nüsslisalat aus dem Schnee.