PUBLIKATION

NZZ am Sonntag
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

2.5.2004

«ICH KäMPFE GEGEN DEN SCHNELLKONSUM»

 

Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn verweigert sich der Schweiz. Er kann es sich auch leisten. Die internationale Kunstszene reisst sich um die Abfallkunst des enthusiastischen Wahl-Parisers.

 

NZZ am Sonntag: Wo auf dem Foto sind Sie?
Thomas Hirschhorn: In der obersten Reihe, der Zweite von links. Mein Vater hat das jedenfalls so auf die Rückseite der Foto geschrieben. Sonst kann ich auf der Foto nur noch meinen ehemaligen Schulkameraden Peter Frei aus Davos Dorf erkennen.


Wie alt sind Sie hier?
Ich war zehn Jahre alt. Die Foto zeigt mich an meiner Erstkommunion. Das war im April 1967 in Davos Platz.


Sind ja gar keine Mädchen drauf.
Ja, schade.


Was waren Sie für ein Schüler?
Ich war durchschnittlich, ausser im Zeichnen. Da hatte ich eine überdurchschnittliche Begabung. Zeichnen war mein Lieblingsfach. Ich machte oft an Malwettbewerben mit, wollte etwas aus meinem Talent machen, wusste aber nicht wie. Dann wollte ich Grafiker werden. Ich stellte mir vor, Plakate zu gestalten, die dann jeder in den Strassen sehen könnte. Also machte ich eine vierjährige Schriftsetzerlehre. Doch ich war unzufrieden, weil ich meinen Gestaltungsdrang nicht anwenden konnte. Als ich von der Kunstgewerbeschule in Zürich hörte, bewarb ich mich dort und wurde für den Vorkurs aufgenommen. Mit 21 zog ich nach Zürich.


Wollten Sie Künstler werden?
Ich wusste gar nicht, was es heisst, ein Künstler zu sein. In meinem Elternhaus spielte Kunst keine Rolle. Die einzigen Kunstbücher bei uns im Haus waren Silvabücher.


Wie war die Zeit an der Kunstgewerbeschule?
Es war wunderbar, vor allem im Vorkurs. Zum ersten Mal kam ich mit Kunst in Kontakt. Zum ersten Mal wurde meine Begabung wahrgenommen und ernst genommen. Zum ersten Mal traf ich auf Gleichgesinnte. Wir besuchten Ausstellungen wie jene von Andy Warhol und Joseph Beuys. Auch später in der Grafik-Fachklasse diskutierten wir ständig über unsere gestalterische Arbeit, über Form, über Inhalt, über Werbung und über Kunst. Diese Auseinandersetzung war sehr wichtig für mich.


Sie gingen 1984 nach Paris. Was gab den Ausschlag?
Nach Paris ging ich wegen eines kommunistischen Grafiker-Kollektivs namens «Grapus». Diese Gruppe hatte ihre Arbeit in der Grafik-Fachklasse vorgestellt. Ich war sehr beeindruckt von ihrem Engagement und ihrer Kreativität und wollte bei ihnen unbedingt ein Praktikum machen. Okay, sagten sie, du kannst kommen. Ich blieb genau einen halben Tag in ihrem Studio, denn statt gestalten sollte ich reinzeichnen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Dennoch blieb ich in Paris. Mein Stolz verbot es mir, in die Schweiz zurückzukehren. Ich war dann aber jahrelang isoliert, ohne Geld und ziemlich verloren. In dieser Isolation entwickelte ich meine Arbeit. Und in diesen Jahren lernte ich Leute kennen, die bereit waren, sich mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Thierry de Duve, François Barré und Catherine David. Denen zeigte ich meine Collagen. Erst mit 33 Jahren entschied ich, dass meine Arbeit Kunst war. Plötzlich war alles klar.


Sie entdeckten sich selber?
Niemand wird entdeckt. Auch Galeristen, Kunstkritiker und Kuratoren entdecken niemanden. Sie fangen nur an, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aus bestimmten Gründen für einen Künstler zu interessieren.


Sie haben Ihre Installationen im Immigrantenquartier von Kassel, in der desolaten Banlieue von Avignon, im Rotlichtdistrikt von Amsterdam aufgestellt. Wäre Sozialarbeiter nicht auch eine berufliche Perspektive gewesen?
Auf keinen Fall! Ich habe eine Abneigung gegenüber Sozialarbeit. Kunst ist für mich ein Werkzeug, um die Welt in ihrer Komplexität, Dichte und Unbegreiflichkeit kennen zu lernen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Ich bin für die totale Autonomie des Kunstwerkes. Ich will aber auch eine Kunst machen, die sich der Realität stellt. Das «Time Magazine» hat letztes Jahr den amerikanischen Soldaten als «man of the year» bestimmt. Ein Mann, der tötet, wird Mann des Jahres. Verrückt. Ich habe dazu eine Arbeit unter dem Titel «twintear» für eine Galerie in New York gemacht.


Ihre Installationen zeugen von gestalterischer Intelligenz und Material- Intensität. Ginge es nicht einfacher?
Schneeketten, Pappkarton, Styropor, Stacheldraht, Plasticplanen, Boxsäcke, Neonröhren, Alufolie und Klebeband, das alles hat seinen Sinn. Es geht nicht einfacher, nur kompliziert. Meine Arbeit ist oft noch zu wenig dicht, zu wenig geladen. Ich versuche, sie noch dringlicher zu machen.


Oft benützen Kritiker den Begriff Bastel-Kunst. Stört Sie das?
Missverständnisse, Falschinterpretationen und Halbheiten in der Kritik gibt es immer - wichtig ist, dass man weiss, was man will. Ich bastle nicht. Mich interessieren aber Bastler und das, was sie machen. Modelleisenbahn-Bastler, die liebevoll ihre Züge zusammenstellen, und Demonstranten, die mit Engagement Transparente oder Objekte anfertigen, um ihre Meinung auszudrücken. Bastelmaterialien haben keinen künstlichen Mehrwert und sind geeignet, sich an ein breites Publikum zu wenden. Ich will für ein nichtexklusives Publikum arbeiten.


In «global village» zeigen Sie Davos als krawallgebeutelte Hochsicherheitszone. Stand es während des World Economic Forums so schlimm um Ihre Heimat?
Meine Eltern haben mir erzählt, dass sie während des WEF dazu angehalten werden, auch am Tag die Haustüre zu schliessen. Das hätten sie früher nie gemacht. Jedes Jahr im Winter wird das Alpental zur Festung. Ein Luftkurort im Ausnahmezustand. Während des WEF werden demokratische Grundregeln ausser Kraft gesetzt, indem man Demonstranten verbietet, sich frei zu bewegen. Die Demokratie wird aus paranoider Angst verraten, sie wird zurechtgebogen. Das ist in der Tat nicht zu akzeptieren.


Vor fünf Jahren empörten sich Professoren über Ihre Karton-Kunst-Kioske im Vestibül der Uni Irchel. Ihre Gedenkstätte für Ingeborg Bachmann fanden die Passanten pietätlos. Regt sich heute noch jemand über Hirschhorn auf?
Es gibt immer wieder Kritik, der man standhalten muss. Als ich 1992 in der Shedhalle mit Silvie Fleury, Daniele Buetti und Alex Hanimann ausstellte, schrieb die NZZ über mich nur einen Satz: «Bei Thomas Hirschhorn dreht sich alles in einem sehr engen Kreis: abgerissen und aufgeklebt.» Zum Kunst-Kiosk-Projekt in der Uni Irchel meinte ein Informatikprofessor, er müsse sich jedes Mal, wenn Besucher kämen, für meine Kunst entschuldigen. Unter dieser Kritik litt ich aber keine Sekunde. Im Gegenteil, ich will mein eigener unbequemster, härtester Kritiker sein.


Ihre Arbeiten enthalten oft tonnenweise Papier über Personen und Ereignisse. Muss man das immer alles lesen?
Tonnenweise ist übertrieben, es geht aber darum, die Besucher zu überfordern und sie zu verlangsamen. Es geht darum, sie aufzufordern, ja zu zwingen, amputierte Sätze und isolierte Wörter als autonomes Material wahrzunehmen. Texte sind, auch losgelöst vom darin transportierten Inhalt, ein Mittel, um Zeit und Raum zu schaffen. Es sind Widerstände, mit denen ich gegen das dominierende schnell Konsumierbare ankämpfe.


Sind die Altäre, die sie Prominenten widmen, Ausdruck einer nicht gelebten Religiosität?
Nein. Ich habe für Ingeborg Bachmann, Otto Freundlich, Raymond Carver und Piet Mondrian Altäre gemacht, weil ich ihre Arbeit liebe und ihr Leben verehre. Ich bin ihr Fan, wie andere Fans von Lady Diana oder John F. Kennedy sind.


Sie gelten als enthusiastischer Künstler, als ein Besessener. Stimmt das?
Ich versuche nur, meine Arbeit mit meiner ganzen Kraft, meinem ganzen Können, meinem ganzen Willen zu machen. Wenn ich nicht mit hundert Prozent dabei bin, hat es keinen Sinn. Und natürlich will ich offensiv sein, mutig. Ich will mich ständig selbst überfordern. Die Ungerechtigkeit treibt mich an.


Sie haben hier ein 700 Quadratmeter grosses Atelier. Wie viele Mitarbeiter zählt die Hirschhorn-Factory?
Es gibt keine Factory. Bei manchen Arbeiten helfen mir aber Assistenten bei der Realisierung. Je nach Projekt sind das zwei bis sechs Leute.


Seit wann können Sie von Ihrer Kunst leben?
Seit acht Jahren, also seit ich 38 bin. Vorher hatte ich immer irgendwelche Nebenjobs, um zusätzlich Geld zu verdienen. Ich arbeitete als Zügelmann und als Aushilfe im Altersheim.


Nach der Wahl von Christoph Blocher als Bundesrat haben Sie einen Ausstellungs-Boykott in der Schweiz ausgerufen. Die Wahl hätte doch auch künstlerische Energie freisetzen können?
Ein Bundesrat Blocher setzt bei mir keine künstlerische Energie frei. Aber das Resultat dieser Wahl und die Art, wie sie zustande kam, löste in mir Wut aus. Wut über die Demokratie, über die Schweiz und über dieses feige Parlament. Ich akzeptiere diesen Entscheid nicht, weil ich nicht will, dass Christoph Blocher in ein paar Jahren als höchster Schweizer mein Land repräsentiert. Das will ich mit meinem Ausstellungsboykott in der Schweiz ausdrücken. Ich will aber weiterarbeiten und weiterkämpfen, und ich will Schweizer bleiben! Deshalb gibt es Ende dieses Jahres eine Ausstellung im Centre Culturel Suisse hier in Paris.

 

ENDE INTERVIEW


Der 1957 geborene, in Davos aufgewach sene Thomas Hirschhorn hat sich als eine der stärksten Stimmen der Schweizer Kunst international durchgesetzt. Seine raumgreifenden Skulpturen und begeh baren Rauminstallationen sorgen seit Mitte der 90er Jahre für Aufmerksamkeit. Mit Hilfe «armer» Werkstoffe wie Papp karton und Klebeband baut Hirschhorn «Altäre», «Kioske» und «Monumente», die er Aussenseitern wie Georges Bataille und Robert Walser widmet. Die «NZZ am Sonntag» besuchte den Künstler in Paris, wo er seit 1984 lebt und soeben eine neue Ausstellung in Aubervilliers eröffnet hat.