PUBLIKATION

Tagesanzeiger

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

2.5.2003

EINE LEBENSGESCHICHTE OHNE ANFANG

 

Immer mehr adoptierte Menschen suchen nach ihren leiblichen Eltern - neuerdings mit Hilfe eines Gesetzes. Susanne Strasser fand ihre Halbschwester, nicht aber Mutter und Vater.

 

Die harmlose Frage des Friseurs verunsicherte Susanne Strasser: «Ihr Haar ist eigenartig. Nicht europäisch. Darf ich fragen, woher Sie kommen?» Auch der nächste Friseur bemerkte beim Föhnen freundlich: «Spezielles Haar. Dichte Konsistenz. Sind Sie nicht hier geboren?» Susanne Strasser wechselte innert zehn Jahren viermal den Coiffeur. Die Frage nach ihrer Herkunft kam jedes Mal. Sie hasst die Frage. Denn die 37-Jährigeweiss nicht, woher sie kommt. Sie ist ein Adoptivkind.


Ihre leibliche Mutter arbeitete als junge Frau in einer Uhrenfabrik in der Westschweiz. Sie machte Bekanntschaft mit einem Arbeitskollegen, wurde schwanger und brachte am 24. März 1965 ein Kind zur Welt. Die Frau, ledig, zog in den Aargau, der Mann, verheiratet, reiste zu seiner Familie nach Italien zurück. Das Kind wurde Susanne getauft und kam mit sieben Monaten zu neuen Eltern nach Zürich. Mehr hat Susanne Strasser nicht in Erfahrung gebracht. «Meine Lebensgeschichte», sagt sie, «hat keinen Anfang.»

 

Die Suche von Adoptierten nach der eigenen Identität bezeichnen Fachleute als Wurzelsuche. Sie hat in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Veronika Weiss von der Schweizerischen Fachstelle für Adoption spricht von einem veritablen «Boom». Immer häufiger treffen Briefe und E-Mails ein, in denen inzwischen erwachsene Adoptierte wissen wollen, wer ihre leiblichen Eltern sind. Es sind Menschen, die hier geboren wurden, jahrelang in einer Adoptivfamilie integriert waren und denen plötzlich eine Frage nicht mehr aus dem Kopf geht: «Wer bin ich?» Der Boden, auf dem ihr Leben fusst - ein unbekanntes Terrain.


1997 suchten bei der Schweizerischen Fachstelle insgesamt 30 Personen Unterstützung bei der Suche nach leiblichen Angehörigen. 1999 waren es 70 Personen und im Jahr 2002 bereits über 100. Die subventionierte Fachstelle stösst an Kapazitätsgrenzen. Nur jeder zweite Fall kann bearbeitet werden. Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist ein wegweisendes Urteil des Bundesgerichts vom letzten Frühling. Es attestierte einem 34-jährigen Mann den «unbedingten und absoluten Anspruch auf Offenlegung der Identität der leiblichen Eltern». Jeder Mensch, so die Begründung, habe das Recht zu wissen, woher er stammt.


Susanne Strasser spürte diesen Wunsch erstmals mit zwanzig. Sie machte sich Sorgen um ihre leibliche Mutter; vielleicht ging es ihr ja schlecht, finanziell oder psychisch. Ein Treffen wäre möglich gewesen. Das Altersheim, in dem die inzwischen vierzigjährige Frau als Pflegerin arbeitete, lag nur eine gute Stunde vom Wohnort Susannes entfernt. Aber Susanne Strasser hatte Angst vor einer Begegnung. Was sagt man einer Mutter, die man das erste Mal sieht? Was fragt man eine Mutter, die man nicht kennt? Susanne Strasser schob dieses Treffen hinaus und wartete. Als sie 25 war, klingelte ihre Halbschwester an der Türe. Die gemeinsame Mutter, 45 Jahre jung, sei tot - «gestorben nach langer schwerer Krankheit», wie es in der Todesanzeige hiess. Und Susanne Strasser antwortete: «Dann hat es sich erübrigt.»


Doch sie war nicht erleichtert, eher erschrocken. Denn vergessen konnte sie ihre unbekannte Mutter nicht. Sie war präsent. Immer. Die Fragen drehten sich im Kopf: Woran ist sie gestorben, so jung? Wurde sie zur Adoption gezwungen, damals? Wie sah sie aus? Solange hiess sie, ein schöner Name. Besonders positiv hatten die Behörden damals nicht über die junge Frau geschrieben. «Unselbständig» und «lebensuntüchtig» sei sie gewesen, heisst es in den Akten. Ihre Unterschrift auf der Verzichtserklärung, wo sie verspricht, «niemals Nachforschungen nach dem Aufenthalt des Kindes zu unternehmen», erinnert an die Schrift einer Zweitklässlerin.


Wie viele ledige Schweizer Mütter in den Sechziger- und Siebzigerjahren fand auch Solange P. bei Schwestern des Seraphischen Liebeswerks Zuflucht, um ihr uneheliches Kind zu gebären. Bis zu dreissig Säuglinge betreuten die hauseigenen Hebammen in der Maternité-Pouponnière des Foyer St-Joseph im jurassischen Belfond jährlich. Die Schwestern hatten Verständnis für die Situation der Mütter, suchten nach Adoptiveltern und standen mit ihnen noch jahrelang in Briefkontakt. «Ich wünsche Ihnen viel Glück zum Einzug der lieben Kleinen und ich hoffe, dass doppelter Segen auf Ihrem Entschluss liegt», schrieb Fürsorgerin «Fräulein Schmid» den Adoptiveltern. Immer wieder erstattete sie den Behörden Bericht: «Das Verhältnis ist ein überaus gutes, die kleine Susannli wird gut gepflegt und in jeder Hinsicht gefördert.» Als die Adoption abgesegnet war, gratulierte sie: «Sie können die kleine Susanne nun ganz als eigen betrachten.»


Die grosse Susanne schmunzelt. Wenn sie die Briefe heute liest, wird sie nachdenklich und dankbar zugleich; Letzteres gegenüber ihrem Adoptivvater, der sämtliche Korrespondenz mit den Behörden für seine Tochter aufbewahrte und in Sichtmäppchen zu einem hübschen Ringbuch verarbeitete. Er schenkte es ihr, als sie 18 wurde - falls sie eines Tages mehr wissen wolle.


Warum sind Kenntnisse der eigenen Lebensgeschichte so wichtig? Veronika Weiss von der Schweizerischen Fachstelle Zürich meint: «Wo wir nichts wissen, auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen sind, entwickeln sich Fantasien und Ängste, die übermächtig werden können.» Weiss stellt auch fest, dass immer mehr Adoptiveltern ihre Kinder bei der Wurzelsuche unterstützen. Erst kürzlich konnte die Fachstelle den Kontakt zwischen einem 55-Jährigen und seiner leiblichen, mittlerweile 78-jährigen Mutter herstellen, die, wie sie sagte, «auf diesen Tag ein Leben lang gewartet hatte». Der Sohn besucht sie seitdem regelmässig im Altersheim. In einem anderen Fall überraschte eine 40-jährige Frau ihre 60-jährige Mutter ohne Vorwarnung zu Hause - ein heikler Schritt, von dem Fachleute abraten. Schliesslich gibt es auch Frauen, die nicht mehr an den einst schwerwiegenden Entscheid erinnert werden möchten. Rechtlich heikel wird es, wenn der leiblichen Mutter versprochen wurde - und das war in den 70er-Jahren oft der Fall -, dass sie später nie mit ihrem Kind konfrontiert würde. Im Lausanner Fall argumentierte die leibliche Mutter, die Behörden hätten ihr bei der Adoptionsfreigabe «Geheimhaltung» zugesichert. Zudem sei ihr Sohn durch eine Vergewaltigung gezeugt worden. Diese Umstände habe sie bis heute nicht verarbeitet.


Dennoch: Die Herkunft ist und bleibt ein wesentlicher Aspekt der Identität, so der Familienrechtler Christoph Häfeli. Er erwartet darum, dass die Behörden für die Anliegen der Adoptierten Verständnis haben und ihnen bei der Wurzelsuche behilflich sind. Schliesslich, so Häfeli, garantiere auch die Bundesverfassung im Zusammenhang mit der Fortpflanzungstechnologie den mit Samenspenden gezeugten Kindern das Recht auf Kenntnis der leiblichen Abstammung. «Es gibt keinen Grund, warum das für Adoptierte nicht auch gelten soll.» Dieter Apt, Vormundschaftsbeamter in Basel, betont, dass vor allem junge Frauen, die selber eine Familie gründen wollen, um Akteneinsicht fragen. «Mit der Geburt des eigenen Kindes», glaubt Apt, «werden die eigenen Wurzeln wieder zum Thema.»


So war es auch bei Susanne Strasser, als sie vor sechs Jahren ein Kind erwartete. Wird es der Grossmutter gleichen, die hell war, oder dem Grossvater, dem Südländer? «Nicht europäisch», sagte der Coiffeur. Um nicht erneut an diesen ihr total unbekannten Mann erinnert zu werden, hoffte Susanne Strasser, ihr Kind werde hell; hell wie ihr Mann, ein Zürcher. Aber ihr Sohn hatte wie der Grossvater einen dunklen Teint.

Da nahm Susanne Strasser das Ringbuch hervor. Geburtsurkunde aus La Chaux-de-Fonds NE vom 24. 3. 1965: Mutter, Grosseltern, Zivilstandsbeamter sind vermerkt. Vom Vater keine Spur. Taufurkunde aus Belfond JU vom 8. 10. 1965: Mutter, Grosseltern, Pfarrer sind vermerkt. Vom Vater keine Spur. Verzichtserklärung aus Solothurn vom 8. 11. 1965: Unterschrift der Mutter. Vom Vater keine Spur. Ein Brief an das Steueramt, den Susanne Strasser findet, begräbt schliesslich jede Hoffnung, etwas über ihren Erzeuger herauszufinden. Ihr Adoptivvater teilte den Behörden im Zusammenhang mit seiner Steuererklärung mit, dass er keine Alimentenzahlungen erhalte. Der Grund: «Die Vaterschaft ist nicht abgeklärt.»


Komisch. Denn Susanne Strasser kann sich noch gut daran erinnern, dass sie als etwa Sechsjährige, es war Winter 1971, für ein seltsames Prozedere ins Gerichtlich-medizinische Institut nach Bern musste. Die Kleine wurde vor einen Scheinwerfer gestellt und abfotografiert. Während ihre Adoptiveltern in die Kantine geschickt wurden, musste sie Fragen eines Mitarbeiters beantworten, Zeichnungen machen und ihre Finger und Füsse in «eine Art schwarze Farbe» drücken. «Ich hatte Angst, aber keine Ahnung, worum es ging.»


Sie war angetreten für eine «erbbiologisch-anthropologische Begutachtung», eine Vaterschaftsabklärung, die das Richteramt in Solothurn damals angeordnet hatte. Auch ihr mutmasslicher Vater war da, angereist aus dem Süden. Doch ob dieser Mann wirklich ihr Vater ist, weiss Susanne Strasser bis heute nicht. Die Resultate wurden ihr nie mitgeteilt. Eine erneute Anfrage beim Institut für Rechtsmedizin blieb erfolglos. Die Akten werden höchstens zwanzig Jahre aufbewahrt. Auch andere Recherchen schlugen fehl: Ihr ehemaliger Vormund kann sich schlicht «nicht mehr an sie erinnern», Fürsorgerin Schmid ist mittlerweile über neunzig, und das Foyer St-Joseph dient heute als Asylunterkunft.


Susanne Strasser weiss dank ihres Ringbuchs mehr über ihre Herkunft als viele andere Adoptierte aus Afrika, Asien oder Südamerika. Und doch hat sie Angst vor einem schwarzen Loch, das sich auftut unter ihren Füssen. Manchmal klingt der Boden verdächtig hohl.


ENDE LAUFTEXT

 

Box – Rechtliche Rahmenbedingungen
Volljährige Adoptivkinder haben laut einem Grundsatzentscheid des Bundesgerichts vom letzten Frühling einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf zu erfahren, wer ihre leiblichen Eltern sind. Im konkreten Fall wiesen die Lausanner Richter die Klage einer Frau ab, die den Behörden verweigerte, ihren Namen dem mittlerweile 35-jährigen Sohn bekannt zu geben.


Mit diesem Schiedsspruch nahm das Bundesgericht eine Gesetzesänderung vorweg, die Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist. Laut einer neuen Bestimmung des Zivilgesetzbuches (Artikel 268c) haben Adoptierte einen unbedingten Anspruch, die Namen ihrer leiblichen Eltern zu erfahren. «Hat das Kind das 18. Lebensjahr vollendet, so kann es jederzeit Auskunft über die Personalien seiner leiblichen Eltern verlangen.» Das Recht der Adoptierten zu wissen, woher sie stammen, wird somit höher gewertet als das Recht auf Anonymität seitens der leiblichen Eltern. Früher war die Akteneinsicht nicht selten vom guten Willen des jeweiligen Beamten abhängig.


Allerdings erhalten die Adoptierten nicht einfach Name und Adresse ausgehändigt. Die Behörde (meistens Vormundschaftsbehörde oder Adoptionsvermittler) informiert zuerst die leiblichen Eltern und deponiert dort das Anliegen. «Ein solches Wiedersehen», begründet Familienrechtler Christoph Häfeli, «stellt an alle Beteiligten hohe Anforderungen und soll gut vorbereitet werden.» Wenn die leibliche Mutter im Ausland lebt oder mehrmals ihren Wohnort gewechselt hat, erschweren sich die Recherchen entsprechend und führen nicht immer zum gewünschten Erfolg.


Mit der neuen Regelung im ZGB passt sich unser Land dem europäischem Recht an: In England dürfen Adoptivkinder ebenfalls ab 18 Jahren, in Deutschland und Österreich sogar ab 16. Altersjahr Einsicht in ihre Akten haben. Auch die von der Schweiz ratifizierte Uno-Kinderrechtskonvention räumt Adoptivkindern vorbehaltlosen Anspruch auf Kenntnis der leiblichen Eltern ein. Nicht selten ist dies auch wichtig, um über allfällige Erbkrankheiten Bescheid zu wissen.