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Zentralplus

ZUSAMMENARBEIT

Andreas Busslinger (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

23.6.2021

OBERIRDISCHE BäCHE DANK DER TANGENTE

 

Drei Bäche fliessen dank der Tangente Zug–Baar wieder an der Oberfläche. Das dient vor allem dem Hochwasserschutz, bringt aber auch einen ökologischen Gewinn. 500 Steinkrebse mussten zeitweise umziehen.

 

Es ist eine geballte Ladung an Informationen, die Urs Kempf den Mitgliedern von Pro Natura auf den Weg gibt. Die Damen und Herren Naturfans sind aber auch ein dankbares Publikum. Auf einem Rundgang entlang der renaturierten Gewässer wollen sie vom Leiter der Abteilung Wasserbau des kantonalen Tiefbauamtes über alle Details der ökologischen Optimierung aufgeklärt werden, die man im Rahmen des Strassenbauprojekts Tangente Zug–Baar umgesetzt hat. Kempf kann das nur recht sein. Gut gelaunt stapft er mit schwarzen Gummistiefeln, wetterfester Hose und brauner Regenjacke voran, dem Grossacherbach entlang Richtung Margelbach. Er ist ganz in seinem Element.

 

Ökologie und Strassenbau? Was auf den ersten Blick nach einem Widerspruch klingt, stellt als Paket einen wichtigen Bestandteil des Tangentenprojekts dar. Basierend auf der landschaftspflegerischen Begleitplanung (LBP) wurden nämlich auch sogenannte ökologische Ausgleichsmassnahmen umgesetzt; ein Sammelbegriff für Vorkehrungen, die dem Schutz, Ersatz und der Wiederherstellung von Lebensräumen und ihrer Vernetzung in dicht besiedelten Landschaften dienen. Gesetzliche Grundlage bildet Artikel 18 des Bundesgesetzes über Natur- und Heimatschutz (NHG). Zentrales Element dieser Massnahmen bilden im Falle der Tangente die Renaturierung des Grossacherbachs sowie dessen drei vom Gebiet Himmelrich/Margel her fliessenden Seitenarme Margel-, Mittel- und Geissbüelbach. Kostenpunkt der Bachrenaturierung: 5 Millionen Franken.

 

Das Problem: Zur Gewinnung von Kultur- und Siedlungsflächen wurden im 20. Jahrhundert in der Schweiz zahlreiche harte Gewässereingriffe getätigt, Bäche und Flüsse vollumfänglich oder teilweise begradigt, kanalisiert oder eingedolt, so auch die erwähnten Inwiler Bäche. Als Folge davon wurden natürliche Überschwemmungsgebiete überbaut und Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerstört. Später zeigte sich, dass Hochwasserschäden auf diese Weise nicht verhindert werden können.

 

Im Kanton Zug realisierte man bereits vor 20 Jahren, dass die Bäche im Gebiet Inwil/Geissbüel ein hohes Revitalisierungspotenzial aufweisen und ökologisch aufgewertet werden sollten. Darum hat der Kantonsrat schon bei der Richtplananpassung im Jahre 2004 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Dieser wurde jetzt umgesetzt. Insgesamt hat man nun rund um den Knoten Rigistrasse eine Strecke von rund 800 Metern ausgedolt. Die Renaturierung der Bäche, also die ökologische Neugestaltung, erstreckt sich schliesslich über eine Länge von fast einem Kilometer.

 

Zum Zeitpunkt des Rundgangs mit Pro Natura im letzten Herbst präsentierten sich Bachsohlen und Böschungen noch relativ karg. Doch die Voraussetzungen, dass sich hier schon bald ein attraktiver, von artenreichen Böschungen geprägter Grünraum entwickelt, sind gegeben. Gezielt wurde Vegetation angesetzt und hat man bestimmte Böschungsabschnitte mit einheimischem Gehölz bestockt; vorab mit Sträuchern, die sich im und am Wasser besonders wohl fühlen: Liguster, Pfaffenhütchen, Traubenkirsche, Kreuzdorn, Schwarzdorn, Weiden, Heckenrosen oder der gemeine Schneeball. Doch auch Baumarten wie Schwarzerlen, deren Wurzeln dereinst bis ins Grundwasser reichen können, haben im neu ausgestalteten Bachsystem einen Lebensraum gefunden. Schwarzerlen können bis 20 Meter in die Höhe wachsen. Sie werden – zusammen mit den gepflanzten Weiden – dafür sorgen, dass die Gewässersohle gut beschattet und nicht zu stark erwärmt wird. Das ist gut für die Fische: Warmes Wasser, muss man wissen, mögen die Bachforellen und Groppen, die hier leben, nicht.

 

Apropos Fische: Auch sie hat man in die Planung einbezogen. Noch bevor die ersten Bagger auffuhren, wurden Forellen und Groppen elektrisch abgefischt, also mit Strom betäubt und so an die Oberfläche getrieben. Anschliessend hat man sie mit einem Netz aus dem Wasser gezogen und andernorts wieder ausgesetzt. Aufwändiger gestaltete sich die Prozedur für die Population der rund 500 Steinkrebse, die im Margelbach seit Jahrzehnten ihr Dasein fristen. Die gefährdeten und geschützten Tierchen reagieren auf menschliche Eingriffe und Manipulationen in der Natur besonders empfindlich und profitierten im Vorfeld der Renaturierung darum von einer Sonderbehandlung. Zum Auskrebsen wurde dem Bach tagsüber das Wasser abgedreht. So kamen die Krebse aus ihren Verstecken heraus, suchten die zurückbleibenden Pfützen auf und konnten im Laufe von ein paar Tagen relativ einfach eingesammelt werden. Während den Bauarbeiten verweilten die Tiere in einem mit Frischwasser gespeisten Stahlcontainer und wurden mit Fischfilet und Laubblättern durch den Winter gefuttert. Ende Januar 2020, als der von den Steinkrebsen bevölkerte Streckenabschnitt renaturiert war, bezogen die Tiere ihr neues Quartier im Margelbach.

 

Die Pro-Natura-Gruppe strahlt. An solchen Geschichten finden die Landschaftsschützer, die der Tangente skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, Gefallen. Als sie schliesslich auch noch detaillierte Ausführungen über das an den Bachböschungen eingesetzte Saatgut erhalten, kommen sie gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. In Absprache mit der zuständigen Landschaftsarchitektin aus dem Aargau wurde nämlich eine eigens auf das Tangententerrain abgestimmte Mischung gestreut; ein Saatgut, aus dem sich dereinst eine Krautschicht mit rund 50 verschiedenen Gräsern und Blumen entwickeln wird. Parallel dazu hat man mit dem Bagger aus dem alten Bachgerinne Pflanzenpakete, sogenannte Soden, entnommen und ins neu gestaltete Bachgerinne gesetzt. In die breite, kiesige Bachmulde selbst wurde kein Saatgut eingebracht. Hier kommt es zu einer natürlichen Versamung. Will heissen: Samen werden mit dem Wasser angeschwemmt und setzen sich am Gerinnesaum fest. 

 

Kein Zweifel: Hinter der Renaturierung steckt ein ausgeklügeltes Konzept. Böschungen, die gegen Süden ausgerichtet sind, wurden bewusst locker bestockt, damit dort Lebensraum für Tiere und Pflanzen entsteht, die es eher trocken mögen. Weniger besonnte Böschungen hingegen wurden stärker mit Pflanzen bestückt, damit das Gerinne möglichst gut beschattet wird. Ebenfalls erwähnenswert: Der weitaus grösste Teil der im Bach eingesetzten Steine stammt aus dem Aushub der Strasse. Das Moränenmaterial enthielt wertvolle Steinhaufen, die der Gletscher hierher transportiert hat und die man wiederverwenden konnte. Von extern zugeführt werden mussten nur die grossen Granitblock- und Bollensteine im Bereich der Durchlässe.

 

Bevor die Gruppe zur Baubaracke zurückkehrt, werden auf dem Rundgang schliesslich noch die vier Geschiebesammler in Augenschein genommen: Bachausweitungen mit flacher Sohle, in denen sich Holz, Sand, Kies und Schlamm natürlicherweise ablagert. Diese sind am Ende mit einem Rechen versehen, der verhindert, dass es bei Hochwasser zu Verstopfungen bei den Durchlässen kommt. Apropos Vorsichtsmassnahmen bei Unwetter: Mit der Renaturierung des Grossacher-, Geissbüel-, Mittel- und Margelbachs wird gleichzeitig der Hochwasserabfluss gewährleistet. Das ganze Bachsystem, das nun geschaffen wurde, ist – wie für Siedlungsgebiet vorgeschrieben – für ein 100-jährliches Ereignis gewappnet, für ein Hochwasser also, das statistisch nur alle hundert Jahre vorkommt.