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Zentralplus

ZUSAMMENARBEIT

Zuger Archäologie (Infos und Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

21.6.2021

4000 JAHRE IN DIE VERGANGENHEIT GEREIST

 

Der Bau der Tangente Zug-Baar ist von der Zuger Archäologie begleitet worden. Mit Erfolg: Die Forscher stiessen im Rahmen einer Rettungsgrabung auf überraschende Spuren unserer keltischen und römischen Vorfahren. Die Funde stellen ein wichtiges Puzzleteil für das Verständnis unserer Vergangenheit dar.

 

Rettungsgrabung? Klingt nach einem Notfall, nach einer Hauruckaktion, die spontan aufgegleist wurde, um wertvolle Funde in letzter Minute vor den Baggerschaufeln zu retten. Dem ist nicht so. Die Bezeichnung ist schlicht und einfach der Fachbegriff für archäologische Tätigkeiten, die – im Gegensatz zu Forschungsgrabungen – im Vorfeld von Baumassnahmen erfolgen. Es handelt sich eigentlich um Ersatzmassnahmen. Denn streng genommen werden die archäologischen Bodendenkmäler durch die Ausgrabung nicht erhalten, sondern zerstört. Die Ersatzhandlung besteht darin, dass die Funde und Befunde dokumentiert, ausgewertet und archiviert werden. Mit anderen Worten: Der ungestörte Verbleib des Denkmals im Boden wäre nur dann gewährleistet, wenn man auf den Bau der Tangente verzichtet hätte. Aber dies war natürlich keine Option.

 

Bereits als bei der Rigistrasse die ersten Bodeneingriffe in Form von Baugrundabklärungen für die dort geplante Fussgängerbrücke getätigt wurden, waren die Archäologen vor Ort. Bei diesen Vorarbeiten zeichnete sich auch bereits ab, dass mit materiellen Hinterlassenschaften gerechnet werden konnte. Die archäologischen Tätigkeiten wurden mit der Bauleitungsfirma und dem Tiefbauamt koordiniert, so wie das immer gemacht wird, wenn der Kanton ein grösseres Bauvorhaben plant, das sich in einer archäologischen Zone befindet. Die Lorzenebene im Delta zwischen Zug, Baar und Steinhausen stellt – zumindest teilweise – eine solche Zone dar. Das Gebiet war seit jeher besiedelt, entsprechende Spuren und Befunde gehen auf das Neolithikum zurück.

 

Neolithikum? Werfen wir einen Blick auf den Zeitstrahl, der sämtliche Kulturepochen von der Moderne (Neuzeit) bis zum Altpaläolithikum (600’000 Jahre v. Chr.) chronologisch ordnet. Neolithikum ist ein anderes Wort für die Jungsteinzeit, jene Epoche der Menschheitsgeschichte, die als Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen definiert wird. In Mitteleuropa ist in etwa der Zeitraum von 5500 bis 2200 v. Chr. gemeint.

 

Wer nun glaubt, die Archäologen hätten besonders tief graben müssen, um auf Funde zu stossen, liegt falsch. Die meisten Objekte beim Knoten Industriestrasse fanden sich bodennah, nur rund 40 Zentimeter unter der Oberfläche. Fündig wurde man also schnell, wobei es zu unterscheiden gilt zwischen einzelnen, kleinen Funden und sogenannten Befunden. Bei Ersteren handelt es sich um bewegliche Gegenstände wie beispielsweise Münzen, Scherben oder Knochen, bei den zweiten um unbewegliche Strukturen wie Mauern, Gruben, Gräben, Pfosten oder Schichten. Sie liefern eine Aussage darüber, was hier passiert ist, wie man hier gelebt hat. Die Befunde erlauben die Einbettung eines Fundstücks in seinen Kontext, wodurch das einzelne Objekt erst an wissenschaftlicher Bedeutung gewinnt.

 

Kaum waren also die obersten Erdschichten abgetragen, präsentierte sich den Archäologen unweit der Tennisplätze ein grossflächiger Scherbenteppich aus den Überresten eines Keramikgefässes aus der Bronzezeit (2200–850 v. Chr.). Die rund 4000 Jahre alten Fragmente dürften in ihrer Gesamtheit als Vorratstopf oder Aufbewahrungsgefäss für Flüssigkeiten oder Getreide gedient haben, auch die Verwendung als Urne wäre denkbar. Schätzungsweise zehn Kilogramm Scherben konnten geborgen werden. Dass die Fachleute so schnell ein Erfolgserlebnis hatten, wirkte sich nicht nur motivierend auf das Team aus, sondern beeindruckte auch die Bauarbeiter, die zugegen waren. Manche von ihnen zeigten Interesse an der archäologischen Arbeit. Schliesslich galt es, sich gegenseitig abzusprechen und Rücksicht zu nehmen. Wichtig war dies vor allem bei der Abtragung des Humus, die nur bei trockenem Wetter stattfinden konnte.

 

Ein zweiter Fund kam nur unweit der ersten Stelle hervor: Eine grosse, mit dunklem Erdmaterial gefüllte Grube. In deren Mitte fanden sich die Reste einer Feuerstelle. Ausser Gefässfragmenten kamen auch zahlreiche Tierknochen, eine 2400 Jahre alte Haselnussschale und Schmuck zum Vorschein: so etwa eine Fibel – also eine metallene, dem Prinzip der Sicherheitsnadel entsprechende Nadel, mit der früher die Gewänder verschlossen wurden. Aber auch ein Spinnwirtel aus gebranntem Ton, der zum Verspinnen von Fasern zu Garn benutzt wurde sowie das Fragment eines Glasarmrings: ein nahtloser Armreif aus Glas, der von Frauen getragen wurde und häufig als Grabbeigabe diente. Sämtliche Funde sind in die Latènezeit zu datieren und stammen somit aus der Epoche der Kelten (450–58 v. Chr.). Ein Foto dokumentiert ein kleines Perlenstück, das vor einer Ewigkeit einmal Bestandteil einer Kette gewesen sein muss. Es leuchtet blau und gelb.

 

Funde aus diesem Zeitabschnitt sind im Kanton Zug rar, was sie umso bedeutungsvoller macht. Rätsel geben den Archäologen die Deutung der baulichen Überreste auf. Denkbar ist ein sogenanntes Grubenhaus, bei dem das Hausinnere in den Boden eingetieft wurde. Ein Zusammenhang mit der keltischen Besiedlung der Baarburg liegt aufgrund der geringen Distanz nahe. Auf der plateauartigen Hügelkuppe befand sich einst eine grosse keltische Siedlung. Es handelte sich dabei um einen wahrscheinlich mit einem Holz-Erde-Wall geschützten Ort, der ein politisch-wirtschaftliches Zentrum der Region gewesen sein dürfte. Handwerk und Handel mit dem Mittelmeerraum wurden dort bereits durch andere Fundstücke belegt.

 

Wie aber in aller Welt ist es möglich, solch kleine Überbleibsel von blossem Auge zu erkennen? Die Antwort ist simpel: Man muss ein geschultes Auge für den Boden haben, Farb- und Strukturveränderungen wahrnehmen und sehen, was nicht natürlich ist. Archäologen mit Erfahrung erkennen bodenfremdes, von Menschen hergestelltes oder beeinflusstes Material relativ schnell.

Manchmal ist aber auch Zufall und Glück im Spiel und die Entdeckung eines archäologischen Objekts fühlt sich an, als hätte man die berühmte Nadel im Heuhaufen gefunden. Denn: der Metalldetektor ist wohl praktisch, findet aber nur Metall. Keramik und Glas bleiben unentdeckt und kommen oft erst beim manuellen Aussieben der Erde zum Vorschein. Welche Technik auch immer angewendet wird: dass mehrere tausend Jahre alte Spuren noch sichtbar sind, ist und bleibt faszinierend und man fragt sich, wenn auch mehr rhetorisch: Was wird wohl aus dem eigenen Haushalt in 4000 Jahren noch übrig bleiben?

 

Wissenschaftlich ausgewertet sind die Funde von der Tangente noch nicht. Doch die archäologische Dokumentation begann schon während der Grabung und eine erste Analyse fand statt. Dabei wurden sämtliche Entdeckungen fotografiert, gezeichnet und beschrieben. Bei deren Freilegung wurden diese jeweils mit kleinen, farbigen Wimpeln markiert. In Bezug auf die keltische Epoche waren grössere Fundkomplexe im Kanton Zug eher selten. Bislang ist vor allem Zug-Oberwil als Hotspot bekannt. Bei und auf der Baarburg befindet sich ein weiterer. Die während des Tangentenbaus gefundene Grube zeigt nun, dass auch in der Lorzenebene mit einer intensiven keltischen Besiedlung und Bewirtschaftung zu rechnen ist.

 

Gerade weil man im Kanton Zug aus den oben erwähnten Epochen noch relativ wenige Funde hat, schärft sich nun das Bild, das man von diesen Zeiten hat, je länger je mehr. Für die Frühbronzezeit bestätigt sich durch den Fund der beiden Gruben die Ansicht, dass während dieser Zeit nicht nur das unmittelbare Zugerseeufer besiedelt war, sondern menschliche Aktivitäten auch fernab von dort stattgefunden haben. Es handelt sich um das grösste abseits des Seeufers entdeckte Fundensemble dieser Epoche im Kanton.