PUBLIKATION

Gemeinnützige Gesellschaft Zug

ZUSAMMENARBEIT

Daniela Kienzler (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.4.2021

TäTIGKEITSBERICHT SCHULE HORBACH 2020

 

Im Auftrag der Gemeinnützigen Gesellschaft Zug (GGZ) interviewte ich für den Jahresbericht 2020 der Sonderschule Horbach den Schüler Dinis Madeira (16) und seine Lehrerin Simona Wüthrich (37). Sie erzählten mir, wie sie den Fernunterricht erlebt haben und warum sie beide lieber im Schulzimmer als in der Videokonferenz sitzen.

 

Homeschooling klingt cool, kann aber auch mühsam sein. Dinis, wie hast Du die Zeit erlebt, als
die Schule dicht war?


Dinis Madeira: Am Anfang fand ich es okay. Ich genoss die Freiheiten und konnte mich zu Hause teilweise besser konzentrieren als im Schulzimmer. Wenn ich eine Frage hatte, setzte ich mich per Chat mit meinen Lehrern in Verbindung. Die waren immer erreichbar. Aber nach zwei Monaten Homeschooling wurde es langsam nervig. Da fiel mir zu Hause die Decke auf den Kopf und ich wollte endlich wieder meine Schulkollegen im Horbach sehen. Ich bin es nicht gewohnt, so viel Zeit zu Hause zu verbringen. Denn im Horbach besuche ich das Internat und fahre nur an den Wochenenden zu meinen Eltern. Was die Psychotherapie angeht, die ich wöchentlich besuche, achtete ich darauf, dass ich nicht in den Stosszeiten im Bus sitzen musste. Ich leide an Bronchitis und bin Risikopatient.


Simona Wüthrich: Auch für andere Internatskinder war es nicht so einfach, aufgrund des verordneten Homeschoolings so viel Zeit zu Hause zu verbringen. Denn die Rahmenbedingungen zu Hause sind bei diesen Schülerinnen und Schülern oftmals sehr herausfordernd, was ja mithin ein Grund ist, warum sie unser Internat besuchen. Darum hat die Schulleitung während des Lockdowns von Mitte März 2020 bis Mitte Mai 2020 eine Art Notbeschulung vor Ort organisiert.


Die Lehrpersonen wurden regelrecht ins kalte Wasser geworfen, als der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» ausrief.


Simona Wüthrich: Das war wirklich ein spezieller Moment. Da ich in einem Teilzeitpensum hier arbeite, kümmerte sich in erster Linie Dinis Klassenlehrer um die kurzfristige Umstellung von Präsenz- auf Fernunterricht. Er nahm mit allen Schülern Kontakt auf und sorgte dafür, dass die Internet-Plattform «Teams» zur Verfügung stand. Das Problem war: einige Schüler hatten zu Hause gar keinen PC. Sie luden sich die Software dann aufs Handy runter, was suboptimal war, weil damit nicht alle Funktionen angewendet werden konnten. Wer kein funktionierendes Handy hatte, erhielt von uns einen Schul-PC per Post zugeschickt. Bis wir uns alle vernünftig organisiert hatten und die Abläufe einigermassen eingespielt waren, dauerte es zirka zwei Wochen.


Wie diszipliniert warst Du, Dinis? Bist Du jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr vor dem Bildschirm gesessen und hast die Anweisungen des Lehrers befolgt?


Dinis Madeira: Nein. Wir mussten erst um 9 Uhr für die Videokonferenzen parat sein. So konnte ich etwas länger schlafen. Wenn es dann aber los ging und wir wussten, was es zu tun gab, habe ich Gas gegeben. Mein Ziel war, so schnell wie möglich mit allen Aufgaben durch zu sein, um am Nachmittag etwas anderes zu machen. Da ging ich im Wald spazieren, machte Videogames oder half meiner jüngeren Schwester im Homeschooling. Sie besucht die erste Klasse und der Fernunterricht war für sie nicht ganz einfach. Meine Eltern können ihr zudem nicht helfen. Wir sind vor sechs Jahren von Portugal in die Schweiz gezogen und sie verstehen kaum Deutsch.


Simona Wüthrich: Zum Glück sind meine beiden Kinder – Marvin (4) und Liara (3) – noch nicht schulpflichtig, sonst hätte ich sie zu Hause auch noch unterrichten müssen. Normalerweise kümmern sich meine Schwiegereltern um sie, wenn ich im Horbach am Unterrichten bin. Aber das ging ja dann auch nicht mehr. Also blieben meine Kinder genauso wie ich zu Hause, wenn ich Fernunterricht erteilte. Irgendwie versuchte ich, sie zu beschäftigen. Ab und zu kam es vor, dass Marvin und Liara meinen Schülern spontan durch die Videokamera zuwinkten. Da gab es immer mal wieder etwas zu lachen.


Bildungsexperten warnten davor, dass Homeschooling die Nachteile sozial schlechter gestellter
Kinder und Jugendlicher zusätzlich verstärkt. Sehen Sie das auch so?


Simona Wüthrich: Absolut: Der digitale Unterricht erreicht nicht alle Schüler. Viele Eltern, deren Kinder bei uns zur Schule gehen, verfügen nicht über die zeitlichen Ressourcen, ihre Kinder schulisch zu unterstützen. Es bringen aber auch nicht alle Kinder die Selbstdisziplin auf, stundenlang zu Hause zu lernen. Die brauchen das Schulzimmer, die Lehrperson in ihrer Nähe, den Austausch im Klassenverbund. Im Wissen darum standen bei uns während des Fernunterrichts nicht die Lernziele und die reine Vermittlung des Schulstoffs im Vordergrund. Vielmehr versuchten wir, den Jugendlichen eine Struktur zu geben, sie sinnvoll zu beschäftigen und für sie erreichbar zu sein. Für die Internatsschüler stellte der Fernunterricht mit Abstand die grösste Herausforderung dar. Darum durften diese in Absprache mit den Eltern und den Bildungsbehörden bereits nach den Frühlingsferien wieder ins Internat kommen.


Wie kommst Du sonst mit der Situation rund um COVID-19 klar? Man spricht immer von den gefährdeten Alten. Aber für Euch Jugendliche ist die Situation auch schwierig...


Dinis Madeira: Allerdings. Ich bin mittlerweile ziemlich frustriert. Wenn man, wie ich, in einem Internatwohnt, hat man sowieso weniger Freiheiten und muss viele Regeln beachten. Jetzt, durch die Pandemie, kommen noch mehr Anweisungen und Verbote dazu. Das zu akzeptieren, fällt mir manchmal schwer. Völlig unverständlich ist für mich, dass wir im Horbach die Maske nicht nur im Schulunterricht tragen müssen, sondern auch dann, wenn wir uns im Internatsbereich auf der Wohngruppe aufhalten. Das wäre, wie wenn man zu Hause innerhalb der Familie mit einer Maske
rumlaufen müsste.


Simona Wüthrich: Die Kontaktpflege untereinander im Internat ist nicht einfach zu organisieren. Es treffen sich immer wieder verschiedene Leute in geschlossenen Räumen. Ich kann verstehen, dass das Maskentragen auf der Wohngruppe für die Schüler mühsam ist, aber ganz ehrlich: auch wir Erwachsenen können nicht alle Regeln nachvollziehen und haben da und dort unsere Fragezeichen. Man darf nicht vergessen: Es gibt Berufsleute und Branchen, die noch viel stärker als wir von der Pandemie betroffen und in ihrer Existenz finanziell bedroht sind. Letztlich halte ich mich darum einfach an all die Vorschriften, die gelten, und schränke meine beruflichen und privaten Kontakte weiterhin ein – in der Hoffnung, dass man die Situation bald in den Griff bekommt und eine gewisse Normalität einkehrt.

 

Viele Jugendliche sind frustriert, weil sie aufgrund von Corona ihre Freizeitaktivitäten nicht mehr
ausüben können. Hast Du, Dinis, auch Hobbys, auf die Du verzichten musst?


Dinis Madeira: Eigentlich nicht. Mein Hobby ist Zeichnen. Ich male Illustrationen und Comics. Dies könnte ich auch jetzt noch tun. Aber das Problem ist: ich habe derzeit «null Bock» zu zeichnen, bin einfach nicht in der Stimmung, habe keine Energie, keine Motivation, keine Ideen. Und wenn ich mich deprimiert fühle, kann ich nicht kreativ sein. Dass es mir momentan nicht besonders gut geht, hängt sicher auch damit zusammen, dass ich meine Verwandten aus Portugal seit einem Jahr nicht gesehen habe. Ich darf nicht nach Portugal reisen und sie nicht von Portugal in die Schweiz. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Weihnachten ohne sie verbracht. Das war hart.

 

Bei allen Einschränkungen, zu denen wir aufgrund der Pandemie gezwungen werden, hat die derzeitige Situation auch gewisse positive Begleiterscheinungen. Es gibt weniger Verkehr, mehr Ruhe, die Menschen haben mehr Zeit für sich.


Simona Wüthrich: Ich bin grundsätzlich auch optimistisch gestimmt. Das Schönste war für mich zu sehen und zu spüren, dass alle Schüler wieder gerne in die Schule gekommen sind, als wir Mitte Mai 2020 offiziell mit dem Präsenzunterricht starten konnten. Das hat mir wieder gezeigt, dass Schule generell – und unsere im Besonderen – nicht nur ein Ort ist, wo gelernt wird, sondern primär ein Ort der Begegnung und des Austausches.


Dinis Madeira: Der Horbach ist die beste Schule, die ich je besucht habe! Ich fühle mich von den Lehrpersonen verstanden, akzeptiert und ernstgenommen. Seit ich hier bin, geht es mir viel besser als zur Zeit, wo ich noch die Primar- oder Sekundarschule in meiner Wohngemeinde besuchte. Wir alle haben hier unsere Probleme, mit uns selbst, mit den Eltern, oder beides zusammen. Das verbindet uns.