PUBLIKATION

Buch «Tangente»

ZUSAMMENARBEIT

David Jecker (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

25.5.2021

PRäHISTORISCHE SPUREN BEIM TENNISPLATZ

 

Die Aushubarbeiten für den Bau der Tangente wurden von der Zuger Archäologie begleitet. Mit Erfolg! Im Rahmen der Rettungsgrabung stiess man auf überraschende Spuren aus der Bronzezeit und der keltischen Epoche. Sie stellen ein wichtiges Puzzleteil für das Verständnis unserer Vergangenheit dar.

 

Rettungsgrabung? Klingt nach einem Notfall, nach einer Hauruckaktion, die spontan aufgegleist wurde, um wertvolle Funde in letzter Minute vor den Baggerschaufeln zu retten. Dem ist nicht so. Die Bezeichnung ist schlicht und einfach der Fachbegriff für archäologische Tätigkeiten, die – im Gegensatz zu Forschungsgrabungen – im Vorfeld von Baumassnahmen erfolgen. Es handelt sich um Ersatzmassnahmen. Denn streng genommen werden die archäologischen Bodendenkmäler durch die Ausgrabung nicht erhalten, sondern zerstört. Die Ersatzhandlung besteht darin, dass die Funde und Befunde dokumentiert, ausgewertet und archiviert werden. Mit anderen Worten: Der ungestörte Verbleib des Denkmals im Boden wäre nur gewährleistet, wenn man auf den Bau der Tangente verzichtet hätte. Aber dies, ist sich auch die Zuger Archäologie bewusst, war keine Option.


Bereits als bei der Rigistrasse die ersten Bodeneingriffe in Form von Baugrundabklärungen für die geplante Fussgängerbrücke getätigt wurden, waren die Archäologen vor Ort. Bei diesen Vorarbeiten zeichnete sich ab, dass mit materiellen Hinterlassenschaften gerechnet werden konnte. Die archäologischen Tätigkeiten wurden mit der Bauleitungsfirma und dem Tiefbauamt koordiniert, so wie das immer gemacht wird, wenn der Kanton ein grösseres Bauvorhaben plant, das sich in einer archäologischen Zone befindet. Die Lorzenebene im Delta zwischen Zug, Baar und Steinhausen stellt – zumindest teilweise – eine solche Zone dar. Das Gebiet war seit je besiedelt, entsprechende Spuren und Befunde gehen auf das Neolithikum zurück.


Neolithikum? Werfen wir einen Blick auf den Zeitstrahl, der sämtliche Kulturepochen von der Moderne (Neuzeit) bis zum Altpaläolithikum (600 000 Jahre v. Chr.) chronologisch ordnet. Neolithikum ist ein anderes Wort für die Jungsteinzeit, jene Epoche der Menschheitsgeschichte, die als Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen definiert wird. In Mitteleuropa ist in etwa der Zeitraum von 5500 bis 2200 v. Chr. gemeint.


Wer nun glaubt, die Archäologen hätten besonders tief graben müssen, um auf Funde zu stossen, liegt falsch. Die meisten Objekte beim Knoten Industriestrasse fanden sich bodennah, nur rund 40 Zentimeter unter der Oberfläche. Dies dokumentiert auch das Fotomaterial. Auf einem Bild sieht man einen Bagger, der Humus abträgt. Unmittelbar neben der grossen Schaufel geht ein Mann in Wanderschuhen, T-Shirt, kurzer Hose, Helm und Metalldetektor über den abgetragenen Boden. Er gehört zum sechsköpfigen Grabungsteam, das während den Abtragungsarbeiten alternierend vom Sommer bis Herbst 2017 im Einsatz war.


Fündig wurde man also schnell, wobei es zu unterscheiden gilt zwischen einzelnen, kleinen Funden und sogenannten Befunden. Bei ersteren handelt es sich um bewegliche Gegenstände wie beispielsweise Münzen, Scherben oder Knochen, bei den zweiten um unbewegliche Strukturen wie Mauern, Gruben, Gräben, Pfosten oder Schichten. Sie liefern eine Aussage darüber, was hier passiert ist, wie man gelebt hat. Die Befunde erlauben die Einbettung eines Fundstücks in seinen Kontext, wodurch das einzelne Objekt erst an wissenschaftlicher Bedeutung gewinnt.


Kaum waren also die obersten Erdschichten abgetragen, präsentierte sich den Archäologen unweit der Tennisplätze ein grossflächiger Scherbenteppich aus den Überresten eines Keramikgefässes aus der Bronzezeit (2200–850 v. Chr.). Die rund 4000 Jahre alten Fragmente dürften in ihrer Gesamtheit als Vorratstopf oder Aufbewahrungsgefäss für Flüssigkeiten oder Getreide gedient haben, auch die Verwendung als Urne wäre denkbar. Schätzungsweise zehn Kilogramm Scherben konnten geborgen werden. Dass die Fachleute so schnell ein Erfolgserlebnis hatten, wirkte sich nicht nur motivierend auf das Team aus, sondern beeindruckte auch die Bauarbeiter, die zugegen waren. Manche von ihnen zeigten Interesse an der archäologischen Arbeit. Schliesslich galt es, sich gegenseitig abzusprechen und Rücksicht zu nehmen. Wichtig war dies vor allem bei der Abtragung des Humus, die nur bei trockenem Wetter stattfinden konnte.

 

Ein zweiter Fund kam nur unweit der ersten Stelle hervor: Eine grosse, mit dunklem Erdmaterial gefüllte Grube. In deren Mitte fanden sich die Reste einer Feuerstelle. Ausser Gefässfragmenten kamen auch zahlreiche Tierknochen, eine 2400 Jahre alte Haselnussschale und Schmuck zum Vorschein: so etwa eine Fibel, also eine metallene, dem Prinzip der Sicherheitsnadel entsprechende Nadel, mit der früher die Gewänder verschlossen wurden; ferner ein Spinnwirtel aus gebranntem Ton, der zum Verspinnen von Fasern zu Garn benutzt wurde, sowie das Fragment eines Glasarmringes: ein nahtloser Armreif aus Glas, der von Frauen getragen wurde und häufig als Grabbeigabe diente. Sämtliche Funde sind in die Latènezeit zu datieren und stammen somit aus der Epoche der Kelten (450–58 v. Chr.). Ein Foto dokumentiert ein kleines Perlenstück, das vor einer Ewigkeit einmal Bestandteil einer Kette gewesen sein muss. Es leuchtet blau und gelb.

 

Funde aus diesem Zeitabschnitt sind im Kanton Zug rar, was sie umso bedeutungsvoller macht. Rätsel geben den Archäologen die Deutung der baulichen Überreste auf. Denkbar ist ein sogenanntes Grubenhaus, bei dem das Hausinnere in den Boden eingetieft wurde. Ein Zusammenhang mit der keltischen Besiedlung der Baarburg liegt aufgrund der geringen Distanz nahe. Auf der plateauartigen Hügelkuppe befand sich einst eine grosse keltische Siedlung. Es handelte sich dabei um einen wahrscheinlich mit einem Holz-Erde-Wall geschützten Ort, der ein politisch-wirtschaftliches Zentrum der Region gewesen sein dürfte. Handwerk und Handel mit dem Mittelmeerraum wurden dort bereits durch andere Fundstücke belegt.


Ein dritter Fund betrifft zwei Gruben aus der Bronzezeit (2200–850 v. Chr.), wo zahlreiche Keramikscherben und verbrannte Knochenstückchen zum Vorschein kamen. Auch hier galt: 30 Zentimeter Humus abdecken und schon stiess man vor in die Zeit um 1700 vor Christus. Auf einem Foto erkennt man dunkle Stellen: Pflugspuren, die auf die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens hinweisen. Tief gepflügt hat man hier mit Sicherheit nie, sonst wären die erwähnten, rund 3700 Jahre alten Scherben zerstreut und zerrieben worden.


Wie aber in aller Welt ist es möglich, solch kleine Überbleibsel von blossem Auge zu erkennen? Die Antwort ist simpel: Man muss ein geschultes Auge für den Boden haben, Farb- und Strukturveränderungen wahrnehmen und sehen, was nicht natürlich ist. Archäologen mit Erfahrung erkennen bodenfremdes, von Menschen hergestelltes oder beeinflusstes Material relativ schnell. Manchmal ist aber auch Zufall und Glück im Spiel, und die Entdeckung eines archäologischen Objekts fühlt sich an, als hätte man die berühmte Nadel im Heuhaufen gefunden. Denn: der Metalldetektor ist wohl praktisch, findet aber nur Metall. Keramik und Glas bleiben unentdeckt und kommen oft erst beim manuellen Aussieben der Erde zum Vorschein. Welche Technik auch immer angewendet wird: Dass mehrere tausend Jahre alte Spuren noch sichtbar sind, ist und bleibt faszinierend, und man fragt sich, mehr rhetorisch: Was wird wohl aus dem eigenen Haushalt in 4000 Jahren noch übrigbleiben?


Wissenschaftlich ausgewertet sind die Funde von der Tangente noch nicht. Doch die archäologische Dokumentation begann schon während der Grabung und eine erste Analyse fand statt. Dabei wurden sämtliche Entdeckungen fotografiert, gezeichnet und beschrieben. Bei deren Freilegung wurden diese jeweils mit kleinen, farbigen Wimpeln markiert. Wichtig war auch, die Fundstellen mit Absperrband zu markieren und bis zur Bergung der Funde und zum Transport ins Labor zu sichern. Erst danach wurde die Fläche von den Archäologen freigegeben. Die Zuger Archäologie greift für diese Arbeit auf Angestellte und Hilfskräfte zurück, die bei Bedarf zur Stelle sind. Für Arbeiten, die keine wissenschaftlichen Kenntnisse erfordern, werden auch «Zivis» eingesetzt.

 

Gerade weil man im Kanton Zug aus den oben erwähnten Epochen noch relativ wenige Funde hat, schärft sich nun das Bild, das man von diesen Zeiten hat, je länger je mehr. Für die Frühbronzezeit bestätigt sich durch den Fund der beiden Gruben die Ansicht, dass während dieser Zeit nicht nur das unmittelbare Zugerseeufer besiedelt war, sondern menschliche Aktivitäten auch fernab von dort stattgefunden haben. Es handelt sich um das grösste abseits des Seeufers entdeckte Fundensemble dieser Epoche im Kanton. In Bezug auf die keltische Epoche waren grössere Fundkomplexe im Kanton Zug ebenfalls eher selten. Bislang ist vor allem Zug-Oberwil als «Hotspot» bekannt. Bei und auf der Baarburg befindet sich ein weiterer. Die während des Tangentenbaus gefundene Grube zeigt, dass auch in der Lorzenebene mit einer intensiven keltischen Besiedlung bzw. Bewirtschaftung zu rechnen ist.


Im Rahmen der Ausstellung «Bildergeschichten», die bis Ende Mai 2021 im Museum für Urgeschichte(n) gezeigt wurde, konnte das Publikum die raren keltischen Objekte aus Keramik und Glas bereits bestaunen und man war sich einig: Die Erforschung unserer Vergangenheit ist hoch spannend. Man taucht ein in eine geheimnisvolle Welt und vergisst einen Moment lang den technisierten modernen Alltag.


ENDE LAUFTEXT

 

Box – Wie alt sind die Überreste? – Die C14-Methode hilft weiter


Mit der Radiokarbonmethode kann man das Alter von ehemals lebenden Organismen – d.h. von Tieren, Menschen, Pflanzen – bestimmen. Denn diese nehmen, solange sie leben, Kohlenstoff auf. Kohlenstoff gibt es in drei «Arten», Isotopen: C12, C13 und C14, wobei C für Kohlenstoff steht und die Zahl für die gesamte Anzahl von Protonen und Neutronen (Nukleonen). Während die Isotope C12 und C13 stabil sind, ist das Isotop C14 radioaktiv und zerfällt im Laufe der Zeit. Stirbt das Lebewesen, nimmt es ab diesem Zeitpunkt kein C14 mehr auf, das C14 zerfällt und der Gehalt nimmt ab. Nach 5730 Jahren ist nur noch die Hälfte der ursprünglichen Menge vorhanden. Deshalb nennt man diese Zeitdauer die Halbwertszeit. C12 aber bleibt unverändert erhalten. Aus dem Verhältnis von C12 und C14 und der vorhandenen Menge lässt sich nun das Alter des Fundes bestimmen. Einen Schönheitsfehler hat die Methode aber: Der Fund darf nämlich nicht älter als 50 000 Jahre alt sein. Denn dann ist die Menge an C14 zu klein geworden, um sie noch bestimmen zu können.