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Zentralplus

ZUSAMMENARBEIT

Hugo Studhalter (Foto)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

26.9.2020

«ICH WAR NOCH NIE IM AUSLAND»

 

Zu Hause bleiben, die Heimat entdecken. Viele Schweizer machen diese Erfahrung nur dank Corona. Nicht so der Zuger Albert Weiss. Der 70-jährige Bauer war zeitlebens nie im Ausland. Er wüsste nicht wozu.

 

An das Gejammer der Schweizer Bauern hat man sich mittlerweile derart gewöhnt, dass es irritiert, wenn man einem Landwirt begegnet, der einfach zufrieden ist – zufrieden mit dem, was ist, zufrieden mit dem, was er hat.

 

Albert Weiss, 70 Jahre alt, ist so ein Bauer. Er strahlt und schwärmt: von seinen saftigen Löhrpflaumen, die am Baum gedeihen, von den prallen Fellenberg-Zwetschgen, die er gerade erntet, von den kräftigen Hochstammbäumen, von den Milchkühen und vom Jungvieh, das er hält. Dabei ist er mit neun Hektaren Pacht- und sechs Hektaren Eigenland, die er am Zugerberg bewirtschaftet, alles andere als ein Grossgrundbesitzer. Bauernhöfe mit solch geringer Nutzfläche sind knapp existenzsichernd. Aber Albert Weiss ist guten Mutes. «Ich lebe hier im Paradies», sagt er. Blick auf See und Berge, frische Luft, saftige Wiesen – all dies bietet sein «Heimetli». Und Arbeit, unendlich viel Arbeit, die ihn erfüllt, von morgens früh bis abends spät.

 

Albert Weiss ist auf dem Zugerberg verwurzelt, so stark, dass er sein Zuhause kaum je verlässt. Nur selten setzt er sich in seinen alten, rostroten Skoda Oktavia und fährt los Richtung Stadt. Etwa um einen Einkauf zu tätigen, zum Arzt zu gehen oder um Bekannte zu besuchen. Ferien? Hobbys? Fehlalarm! Höchstens mal eine Chilbi, ein Schwingfest oder ein Klassentreffen sucht er auf; und auch dies ganz in der Nähe, irgendwo in der Innerschweiz. Albert Weiss liebt seine Heimat, verspürt keinen Drang zu verreisen, war zeitlebens noch nie im Ausland. «Warum sollte ich?», fragt er. «Ich habe hier zu tun und alles, was ich brauche, ist da.» Albert Weiss ist ein 100-Prozent-Inländer – ganz nach SVP-Geschmack.

 

Doch Albert Weiss ist kein Hinterwäldler. Im Gegenteil: Diskutiert man mit ihm über Gott und die Welt – und das kann man bestens – wird schnell klar: Der Mann ist auf der Höhe der Zeit. Ehe für alle? «Warum nicht? Die Zeiten ändern sich. Auch in der Nachbarschaft gibt es zwei schwule Männer, die Kinder grossziehen.» Kitaplätze? «Das ist sinnvoll, die braucht es. Die Frauen wollen ihr eigenes Geld verdienen. Ich finde das gut.» Ist man mal unterschiedlicher Meinung, versucht er nicht, den Gesprächspartner vom Gegenteil zu überzeugen, sondern bohrt nach, will wissen, warum man so und nicht anders denkt und stellt dann fest: «Da ist was dran. So habe ich mir das noch nie überlegt.» Dialektik at it’s best.

 

Angesprochen auf das Coronavirus gräbt sich nun aber eine steile Falte zwischen Bärtis Augenbrauen und sein Blick wirkt beinahe stumpf vor Ärger. «Übertrieben, was die Regierung alles vorschreibt!» Das Theater um Masken, Abstände und die vielen Regeln kann er schlicht nicht nachvollziehen. «Die Geschäfte haben genug gelitten, man sollte jetzt endlich wieder nach vorne schauen.» Er selbst, aufgrund seines Jahrgangs der Risikogruppe zugehörig, habe keine Angst vor der Pandemie und tue, was er immer getan habe: Mit der Familie den Hof bewirtschaften. Kurzarbeit, meint er grinsend, habe er jedenfalls nicht beantragt. Direkt betroffen ist er von den Massnahmen ohnehin nicht. Kino-, Theater- oder Opernbesuche stehen und standen nie auf seinem Programm, stattdessen pflanzen, zweien, ernten, güllen, füttern, melken, misten, mähen. Auch Contact-Tracing ist kein Thema. Auf dem Feld, im Stall oder im Haus begegnet er vorwiegend drei Leuten: Frau Bertha, Sohn Armin und dessen Freundin Jessica.

 

Albert Weiss – genannt «Guger» (so auch der Name seines Hofs) – ist ein durch und durch geselliger Typ und ein Charmeur obendrauf. Hündeler, Jogger, Spaziergänger und Biker, die seinen schönen Flecken Erde bei der Kapelle St. Verena aufsuchen, um sich vom Alltagsstress zu erholen, wissen das nur zu gut und lassen sich gerne auf einen Schwatz mit ihm ein. Vor allem im Sommer, während der Chriesi-Ernte, herrscht auf seinem Land Hochbetrieb. Da mutiert der kleine Verkaufsstand am Strassenrand zum veritablen Hotspot. Nachbarn, Touristen und immer mehr Expats kaufen die erntefrischen Früchte direkt ab Hof. Letztere fahren an den Wochenenden mit ihren Karossen auf den Berg und sind ganz angetan von der idyllischen Szenerie. Sie schiessen Fotos und staunen: Amazing! Dass es in der globalisierten Kantonshauptstadt – berühmt für Bitcoin und Blockchain – noch solch knorrige Typen gibt: Alteingesessene, ja richtige Urzuger: Gugers Vorfahren, fleissige Korporationsbürger, kamen 1712 auf den Berg.

 

Was viele nicht wissen: Albert Weiss ist nicht einfach nur ein gut gelaunter Obstbauer, sondern auch ein erfolgreicher Braunviehzüchter. Er kennt sich bestens aus mit der tierischen Genetik. Zwei seiner Kühe – Endora und Terka – haben es mit über 100’000 Kilo Milch Lebensleistung in die Kategorie der «Hunderttausender Kühe» und ins Magazin des Schweizerischen Braunviehzuchtverbandes geschafft. Die beiden Damen – 17 und 21 Jahre alt – stehen mit 10 bzw. 13 Laktationen für Fruchtbarkeit und Wirtschaftlichkeit. Sie sind dem Bauer richtiggehend ans Herz gewachsen. «Grossmütter» nennt er sie liebevoll. «Ich mag meine Tiere, respektiere jede einzelne Kuh mit ihrem Charakter und schaue gut zu ihr, auch wenn sie am Ende ihres Lebenszyklus angekommen ist. Die spüren das.» Guger, der Esoteriker? Wohl eher nicht, vielleicht ist er einfach nur empathisch.

 

Dank Bauer Bärti sind Nachbarn immer im Bilde, was auf dem Zugerberg so läuft: Bei wem mitten in der Nacht die Polizei eintraf, wer notfallmässig vom Rettungsdienst abgeholt, wo gestritten, geheiratet, geschieden und gestorben wurde, wem es die Ernte verhagelt hat und auf welchem Hof man sich mit welchen Schädlingen herumschlägt. Unfassbar, was der 70-Jährige, der weder Handy, PC noch einen Internetanschluss besitzt, alles erfährt und zu berichten weiss. News-Ticker können kaum mithalten.

 

Die Welt von Albert Weiss ist überschaubar, der Radius, in dem sich sein Lebensdrehbuch abspielt, klein. Er selbst ist ein von Bescheidenheit beseelter Chrampfer, der das Glück im Moment sucht und findet. Es gibt Grund, ihn zu beneiden. Oder – besser noch – von ihm zu lernen.