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Zentralplus

ZUSAMMENARBEIT

Daniela Kienzler (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

24.5.2020

SCHLEICHEND IN DIE KOKAINSUCHT

 

Stefan Mühlebach, 45, war Kadermann bei der Swisscom und konsumierte 20 Jahre lang exzessiv Kokain. Seine Drogensucht thematisiert er offen. Auch weil er überzeugt ist, dass Transparenz bei diesem Thema dringend nötig ist.

 

Sie entsprechen nicht dem Klischee des sozial randständigen und verwahrlosten Drogensüchtigen, das nach wie vor weit verbreitet ist.
Das stimmt, aber dieses Klischee trifft auf die Mehrheit der Leute nicht zu, die ein Suchtproblem haben. Die Menschen, die ich in meiner Drogenkarriere kennengelernt habe, bettelten nicht als Obdachlose auf der Strasse um Geld und verkehrten auch nicht in der Gassenküche. Sie führten ein unauffälliges Leben und gingen – wie ich – einer geregelten Arbeit nach. Deshalb sollte man sich im Klaren darüber sein: Die meisten Drogen- und Suchtbetroffenen sind als solche nicht sicht- oder erkennbar.


Sie selbst haben eineinhalb Jahre in der Fachinstitution Sennhütte verbracht. Wie kam es dazu?
Im Alter von 25 Jahren verkehrte ich in Luzern in einem Umfeld von gutsituierten Kollegen, die alle etwas älter waren als ich und beruflich recht erfolgreich dastanden. Des öftern lag bei unseren Zusammentreffen Kokain auf dem Tisch, das mit der grössten Selbstverständlichkeit konsumiert wurde. Ich wollte dazugehören und machte mit. Ich sagte mir: Die haben ihr Leben alle im Griff. Was spricht schon gegen ein wenig Genuss?


Wann lief die Sache aus dem Ruder?
Das geschah schleichend. Anfangs kokste ich nur am Wochenende, wenn sich im Ausgang eine Gelegenheit er- gab. Allmählich konsumierte ich auch unter der Woche: meist bei Freunden zu Hause. Das Koksen bildete oft den Abschluss eines feinen Nachtessens mit reichlich Alkohol, der uns in Stimmung brachte. Irgendwann traf man sich dann im kleinen Kreis explizit nur noch, um gemeinsam zu Koksen. Für meinen damaligen Freund und mich wurde das Kokain je länger je mehr zu einem zentralen Element unserer Beziehung und Lebensgestaltung.


Wie haben Sie die Sucht finanziert?
Ich hatte während dieser ganzen Zeit einen guten Job als Systemingenieur bei der Swisscom und verdiente viel Geld. Berufskollegen in der gleichen Einkommensklasse leisteten sich eine Liegenschaft, machten teure Ferien, kauften sich ein flottes Auto und legten Geld zur Seite. Mein Fokus bei den Ausgaben lag auf den Drogen.


Von welcher Summe sprechen wir?
Pro Woche gingen rund 800 Franken drauf, pro Monat über 3000 Franken. Aber wie gesagt, gemessen an meinem Lohn war das nicht viel. Wenn ich das jetzt allerdings hochrechne auf 20 Jahre Konsum, ergibt das doch einen ganz stattlichen Betrag.


Hat Ihr Arbeitgeber nichts gemerkt?
Mein erster Chef hat da nicht so genau hingeschaut und toleriert, dass ich hin und wieder fehlte. Ich galt als kompetent und erbrachte meine Leistung. Mit der Zeit häuften sich dann aber meine Absenzen, und ich konnte mich nicht jedes Mal mit Migräneattacken und Grippesymptomen herausreden. Auch die Erklärung, ich würde Home- office machen, zog irgendwann nicht mehr. Eines Tages erhielt ich eine neue Vorgesetzte, und diese konfrontierte mich mit meinen häufigen Absenzen. Sie machte mir klar, dass sie dies nicht toleriere, auch mit Rücksicht auf die Kollegen im Team, die das ausgleichen mussten. Sie hatte absolut recht. Also entschied ich mich, den Grund für mein häufiges Fehlen offenzulegen, worauf sie mich aufforderte, eine Therapie zu starten. Nach einem dreimonatigen Entzug in einer psychiatrischen Klinik fing ich jedoch wieder mit Konsumieren an. Im Januar 2018 kam dann der grosse Schock: die Kündigung der Swisscom. Mir wurde blitzartig klar: Jetzt musste ich handeln! Meine Psychologin schickte mich für einen Schnuppertag in die Sennhütte und ich war begeistert.


Warum?
Ich war fasziniert von der familiären Atmosphäre. In der grossen, anonymen Klinik konnte ich mich verstecken. In der Sennhütte, dachte ich mir, geht das nicht. Da bist du Teil einer kleinen Wohngemeinschaft und bist viel stärker unter Beobachtung. Gleichzeitig war ich in der Gruppe mit meinem beruflichen Background und der akademischen Ausbildung auch ein wenig der Exot. Wie alle anderen durchlief ich die verschiedenen Arbeitsbereiche und betätigte mich in der Werkstatt, im Garten und in der Küche. Eineinhalb Jahre dauerte schliesslich mein Entzug. Da reifte auch die Idee, ein Mathematikstudium an der Universität Bern zu beginnen.


Eine Art Neustart?
Genau: Neuer Wohnort, neues Umfeld, neue berufliche Ausrichtung. Ich wollte mich neu erfinden, um nicht in alte Muster zu fallen. Dies gelingt mir nun erstaunlich gut. Schön wäre es, ich könnte in Bern meinen Freundeskreis noch ein wenig ausbauen. Darum besuche ich konsequent jedes Wochenende eine kulturelle Veranstaltung. In erster Linie bin ich jetzt aber seit September 2019 Student und führe ein unaufgeregtes, geregeltes und durchaus zufriedenes Leben ohne Drogen.


Und das berühmte Feierabendbier?
Ich bin total abstinent. Anders geht es nicht. Der Alkohol war bei mir immer der Türöffner für das Koks.


Welches sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Das ist ganz klar der Studienabschluss in vier Jahren. Danach könnte ich mir vorstellen, an einer Kantons- oder Berufsschule als Mathematiklehrer zu unterrichten.


Befürchten Sie wegen Ihrer Offenheit mit der persönlichen Drogengeschichte keine Nachteile in Ihrem künftigen Berufsleben?
Nein. Das ist ein Teil meines Lebens, zu dem ich stehe, eine Erfahrung, die ich gemacht habe. Vermutlich hilft mir auch mein Coming-out als schwuler Mann, das ich vor vielen Jahren hatte. Auch da ging es darum, zu sagen was ist. Ich brauche mich für nichts zu schämen. Es gibt nichts zu verheimlichen; und wie eingangs gesagt: Sucht ist in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet. Reden wir darüber, und machen wir uns nichts vor!