PUBLIKATION

Buch «Zum Virus» Verlag Rex

ZUSAMMENARBEIT

Elisabeth Real (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.12.2010

KAMPF GEGEN VIREN

 

Die Schweizer Aids-Forschung geniesst einen exzellenten internationalen Ruf. Professor Bernard Hirschel ist ein Kämpfer der ersten Stunde und einer der wichtigsten und engagiertesten HIV-Akteure in der Schweiz. Wir trafen ihn am Universitätsspital Genf zum Gespräch.

 

Professor Hirschel, wann waren Sie zum ersten Mal mit dem HI-Virus konfrontiert?
Im Jahre 1982 – ich war damals Oberarzt für Infektiologie am Universitätsspital Genf – wurde eine 46-jährige Frau mit einer Infektion der Mundhöhle und einer schweren Lungenentzündung eingeliefert. Wir stellten fest, dass diese Lungenentzündung durch den Pilzparasiten Pneumocystis ausgelöst worden war und sahen Parallelen zum Krankheitsbild von Fällen homosexueller Männer aus Kalifornien. Die Patientin ist drei Wochen nach ihrer Einweisung gestorben.

 

War klar, dass sie an Aids gestorben war?
Das wussten wir erst später mit Bestimmtheit. Wir hatten Gewebsproben genommen und diese untersucht. Wie vermutet, stellte sich post mortem heraus, dass es Aids war.

 

Haben Sie zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass das Virus Sie beruflich lebenslang begleiten würde?
Natürlich nicht. Wenn man als beratender Arzt arbeitet, sieht man sich mit den schwierigsten, komplexesten Fällen konfrontiert, die man sich manchmal nicht erklären kann. Wir haben uns nach dem Todesfall der Frau sofort mit dem CDC, mit dem Center for Disease Control in den USA, in Verbindung gesetzt. Die sagten, unsere Patientin sei die fünfte Frau weltweit, die an Aids verstorben sei. Männliche Fälle waren damals auch erst etwa 400 bekannt. Erst als 1984 die diagnostischen Tests kamen, zeigte sich, dass in den so genannten Risikogruppen – bei Homosexuellen und Drogensüchtigen – sehr viele Leute infiziert waren. In Genf lief in den frühen 80er-Jahren eine Kampagne zur Impfung gegen Hepatitis B. Wir hatten Serumproben vom November 1981 und vom März 1983. Die Proben von 1981 wiesen zu 7 Prozent Antikörper gegen HIV auf, jene von 1983 schon zu 25 Prozent. Das war ein deutliches Alarmzeichen.

 

Was passiert in meinem Körper, wenn ich mich heute mit HIV anstecke?
Vorläufig gar nichts. Die Infektion lässt sich auch nicht sofort nachweisen. Die Inkubationszeit, also die Phase zwischen der Infektion und den ersten Krankheitszeichen, variiert zwischen sechs und sechzig Tagen. Es können dann ganz banale Symptome auftreten wie Halsweh, Fieber, Kopfschmerzen, ein kleiner Ausschlag oder anschwellende Lymphknoten. Während dieser Phase der Primo-Infektion wimmelt es im Körper von Viren; deshalb ist dann die Ansteckungsgefahr so gross. Studien zeigen, dass bis ein Drittel aller HIV-Infektionen von Personen stammen, die sich im akuten Stadium der Infektion befanden.

 

Einmal HIV-positiv – immer HIV-positiv?
Ja. Wenn man keine Behandlung macht, gehen die Anfangssymptome vorbei, und der Patient spürt vorerst nichts von seiner Infektion. Diese Phase der Latenz dauert durchschnittlich zehn Jahre. Während dieser Zeit kann sich das Immunsystem noch gegen das Virus behaupten, und der Betroffene bemerkt nichts von der in seinem Körper tobenden Abwehrschlacht. Mit der Zeit zerstört HIV aber so viele Zellen, dass die Immunabwehr immer schwächer wird und an sich harmlose Krankheitserreger nicht mehr effektiv bekämpfen kann. Es kommt zu so genannt opportunistischen Infektionen, und zu diesem Zeitpunkt ist man an Aids erkrankt. In der Schweiz ist dieses Szenario aber dank antiretroviraler Therapie, kurz ART, Vergangenheit.

 

Wie viele der 17 000 HIV-Infizierten in der Schweiz befinden sich in Therapie?
Von den Patienten, die offiziell bekannt sind, werden etwa 80 Prozent behandelt. Fasst man aber sämtliche HIV-Positiven in der Schweiz ins Auge, also auch jene, die nicht registriert sind – weil sie zum Beispiel gar nicht wissen, dass sie positiv sind –, stehen nur etwa 50 Prozent unter medikamentöser Behandlung. Das sind zwischen 8000 und 9000 Personen.

 

Was ist mit den bekannten 20 Prozent von Infizierten, die nicht behandelt werden?
Ihr Immunsystem ist noch nicht geschwächt. Was den Menschen bedroht, ist ja nicht das Virus selber, sondern das geschwächte Immunsystem. Solange dieses intakt ist, gibt es keinen Grund, einem HIV-Infizierten starke, teure Medikamente zu verabreichen. Hingegen beobachten wir diese Leute. Wir machen Laboruntersuchungen, die genau aufzeigen, in welchem Zustand sich ihr Immunsystem befindet. Die Tests liefern Hinweise, welches der richtige Zeitpunkt für einen Therapiestart ist.

 

Das Ziel der Therapie ist, die Menge der HI-Viren im Blut zu senken?
Richtig. Wir streben heute bei der Behandlung eine Viruslast von weniger als 50 Kopien pro Milliliter Blut an. Dann haben wir das Virus im Griff. Noch vor zehn Jahren hatte die Forschung die Eradikation, also die Ausmerzung des Virus zum Ziel. Seither hat sich gezeigt, daß dieses Ziel mit den heutigen Medikamenten nicht erreicht werden kann. Mit dem oben genannten Richtwert tendiert auch das Transmissionsrisiko gegen null.

 

Wie zuverlässig sind diese Messungen?
Sehr zuverlässig. Man muss aber sagen, dass sich die Viruslast nur auf die Virenmenge im Blutplasma oder im Blutserum bezieht. Auch in den Zellen, den Lymphozyten, sind die Viren vorhanden. 99 Prozent der Lymphozyten befinden sich aber nicht im Blut, sondern in den Lymphknoten, und diese kann man nicht direkt untersuchen, beziehungsweise man müsste jedes Mal eine Operation machen. Auch im Gehirn oder im Genitalbereich können sich die Viren verstecken. Die medikamentöse Behandlung verringert aber die Viruslast in allen untersuchten Geweben, darum genügt das Monitoring im Blut, um den Behandlungserfolg vorauszusagen und das Ansteckungsrisiko einzuschätzen.

 

Mit der Aussage, HIV-Positive unter wirksamer ART seien sexuell nicht mehr infektiös, haben Sie für grosse Aufregung gesorgt.
Es gab positive und negative Reaktionen. Reden wir zuerst von den positiven. Für HIV-Infizierte ist es eine Last, sich infektiös zu wissen. Wenn man ihnen diese Last ein bisschen nehmen kann, indem man ihnen sagt, dass sie im Falle einer Behandlung deutlich weniger infektiös sind, ist das etwas Gutes. Zudem kann sich dieses Wissen beim Patienten motivierend auf seine Bereitschaft zur Medikamenteneinnahme auswirken. Die negativen Reaktionen bezogen sich auf die Evidenzlage: Es gibt Kollegen, die kritisieren, die wissenschaftlichen Daten reichten nicht aus, um eine solche Aussage zu machen. Andere wiederum befürchten negative Auswirkungen auf die Prävention.

 

Was halten Sie denen entgegen?
Dass ich und meine Kollegen Pietro Vernazza und Enos Bernasconi anderer Ansicht sind. Man kann immer sagen, man hätte mehr Patienten untersuchen müssen. In einem Punkt anerkenne ich jedoch einen Vorbehalt an. Es geht darum, dass unsere Aussage auf Daten basiert, die vor allem von heterosexuellen, serodiskordanten Paaren stammen, also von Paaren, in denen eine Person positiv und eine negativ ist. Weniger Daten hat man über die Ansteckung unter Homosexuellen, wobei man davon ausgeht, dass die Infektionsgefahr beim analen Verkehr grösser ist als beim vaginalen. Es ist denn auch ein Fall bekannt, wo trotz nicht nachweisbarer Viruslast ein Mann seinen Partner ansteckte.

 

Womit gerade Ihre These widerlegt wäre ...
«There is no antidote to anecdote …» Für die öffentliche Gesundheit wesentlich sind das Wahrscheinliche und das Typische, nicht die spektakuläre Ausnahme. Dazu kommt, dass die Interpretation von Ansteckungsketten immer auf die Aussagen der Betroffenen über ihr Sexualverhalten angewiesen ist – eine notorisch schlüpfrige Angelegenheit.

 

Die zweite Kritik kam von einigen Präventionsfachleuten. Diese monierten, Ihre Aussage untergrabe die jahrelange Präventionsstrategie.
Ich bin Forscher und sehe es als meine Aufgabe an, Forschungsresultate zu kommunizieren. Diese Art Kritik hörte sich für mich so an: «Sie haben zwar Recht, aber Sie dürfen es nicht sagen.» Man befürchtete, die Aussage könnte vom Durchschnittsbürger als Freipass für ungeschützten Sex missverstanden werden. Darauf antworte ich: Es gibt nicht zwei Wahrheiten, eine für die Öffentlichkeit und eine für die Insider. Das ist unglaubwürdig. Aussagen zur öffentlichen Gesundheit müssen faktisch richtig sein und sollten nicht ideologisch abgewogen werden. Zu sagen, dass die Behandlung die Infektiosität nicht beeinflusse, ist unglaubwürdig. Kein Virus – geringe Ansteckungsgefahr: Das haben die Leute bestimmt begriffen. Andrerseits aber werden sie auch begreifen, dass die Ansteckungsgefahr bei nicht oder schlecht Behandelten bestehen bleibt und dass man sich in unsicheren Situationen am besten selber schützt. Im Übrigen ist es bei stabilen serodiskordanten Paaren immer Sache des nicht infizierten Partners zu entscheiden, ob er das Restrisiko tragen will.

 

Es gibt in der Schweiz momentan 25 Anti-HIV-Medikamente auf dem Markt. Eine gute Ausgangslage für behandelnde Ärzte?
Ja, denn man kann diese miteinander kombinieren. Die Behandlung ist in den letzten zehn Jahren sehr viel besser geworden, und die Infektion kann wie eine chronische Krankheit in Schach gehalten werden. Es ist fast immer möglich, eine Kombination – meist sind es heute drei Medikamente – zu finden, die wirkt und die vom Patienten vertragen wird. Natürlich braucht es Disziplin, und oftmals gibt es Schwierigkeiten mit Nebenwirkungen oder Virusresistenz. Das Virus kann aber nur resistent werden, wenn es sich während der Behandlung vermehrt. Und die Vermehrung des Virus ist nur möglich, wenn die Medikamente nicht regelmässig eingenommen werden.

 

Das heisst, der Patient ist schuld am Problem der Virusresistenz?
Achtung! Die grössten Probleme mit Virusresistenz haben wir mit Patienten, die ihre Behandlung in den 90er-Jahren starteten. Damals war die Behandlung nur teilweise wirksam, und das Virus hat sich langsam an das erste, das zweite, das dritte, das vierte Medikament, das eingenommen wurde, gewöhnt. Die Medikamente aber, die in den letzten drei Jahren auf den Markt kamen, sind – in Zweier- oder Dreierkombination – sehr gut. Trotzdem ist es ein Kampf gegen die Zeit: In fünfzehn Jahren wird es vermutlich Patienten geben, die gegen die heute neusten Medikamente resistent sein werden. Immerhin ist die heutige Behandlung vereinbar mit einem weitgehend normalen privaten und beruflichen Leben, sodass Aussenstehende nicht mitbekommen, dass jemand mit dem HI-Virus infiziert ist.

 

Die AHS klagt, dass Menschen mit HIV immer noch diskriminiert werden und eben gerade kein normales Leben führen können.
Diskriminierung gibt es immer noch, aber das Bild genereller Ausschliessung der Menschen mit HIV ist verzerrt. HIV-Positive, die an die Öffentlichkeit treten, sind nicht typisch für die gesamte Patientenpopulation. Unser typischer Patient nimmt seine Medikamente, hat keine grossen Probleme damit, will seine Krankheit mehr oder weniger vergessen und in Ruhe gelassen werden. Das ist nicht der HIV-Patient, der im Fernsehen auftritt, seine Krankheit zum Thema macht und über Diskriminierung am Arbeitsplatz oder bei der Krankenkasse klagt.

 

Welche Rolle spielt das Vorleben eines HIV-Patienten? Ist, wer vor der Infizierung punkto Ernährung oder Bewegung gesund gelebt hat, besser dran?
Es ist eine populäre Annahme, dass ein gesunder Lebenswandel in Bezug auf die HIV-Infektion etwas ausmacht. Dem ist aber nicht so. Das Virus ist bestimmend und überschattet alles. Ich betone das auch immer, wenn ich jemanden über seine HIV-Infektion informiere. Es soll nicht sein, dass die Leute, die krank werden, sich noch mit Selbstvorwürfen plagen. Dennoch hat man festgestellt, dass HIV-Infizierte auch in anderen Bereichen ein Risikoverhalten zeigen; unter ihnen gibt es zum Beispiel sehr viele Raucher.

 

Wie reagieren Betroffene heute auf die Diagnose «HIV-positiv»? Ist die Bestürzung aufgrund der erfolgreichen Therapiemöglichkeiten weniger gross?
Natürlich. Ich sage manchmal meinen Patienten, sie hätten Glück, im Jahre 2009 diagnostiziert zu werden und nicht vor 20 Jahren.

 

Oft hört man, die Einnahme von HIV-Medikamenten vor einem Risikokontakt könne vor einer Infektion schützen. Ist dem so?
Die so genannte Prä-Expositions-Prophylaxe wird derzeit in grossen klinischen Studien getestet an Leuten, die sexuell stark exponiert sind, wie beispielsweise Prostituierte. Es gibt vielversprechende Ergebnisse aus Experimenten mit Affen mit ähnlichen Viren wie HIV. Erste Ergebnisse sind dieses Jahr zu erwarten. Am sichersten sind immer noch Kondome.

 

Welchen Sinn macht es, wenn HIV-Negative HIV-Medikamente nach einem Risikokontakt einnehmen, als «Pille danach»?
Die Post-Expositions-Prophylaxe ist in so genannten «Notfällen» angebracht, zum Beispiel bei Kondomversagen mit einer HIV-positiven Person. Zur Anwendung kommt sie auch bei Unfällen Nichtinfizierter mit HIV-positiven Leuten. Diese Behandlung ist allerdings nicht zu unterschätzen, bedeutet dies doch Medikamenteneinnahme während rund eines Monats, was starke Nebenwirkungen und hohe Kosten verursacht. Dies alles wird von an sich gesunden Leuten nicht ohne weiteres toleriert. Zudem ist es sehr schwierig nachzuweisen, ob ein Medikament wirklich imstande ist, eine HIV-Infektion zu verhindern.

 

Warum?
Weil ein einmaliger ungeschützter sexueller Kontakt mit einer HIV-positiven Person eine Übertragungswahrscheinlichkeit von durchschnittlich 1:300 aufweist. Auch wenn man also keine Prophylaxe macht, passiert in 299 von 300 Fällen nichts. Wenn man also nachweisen will, dass die Prophylaxe wirkt, müsste man für eine Studie tausende von Personen rekrutieren, was praktisch fast nicht zu bewerkstelligen ist.

 

Wozu dient der Datenfundus der schweizerischen Kohortenstudie mit über 14 000 Patientendossiers?
Grundidee der 1988 gegründeten Studie war die gemeinsame Erfassung möglichst aller Schweizer HIV-Patienten, um deren Behandlung zu verbessern. Alle Laborresultate wurden zentral und anonym erfasst. Die Studie ist repräsentativ für die Schweiz, denn über 70 Prozent der rund 6000 dem Bundesamt für Gesundheit gemeldeten Aids-Fälle sind in der Kohorte dokumentiert. So wird versucht, auf diverse komplexe Fragestellungen der HIV-Biologie Antworten zu erhalten, etwa wie das Virus mit dem Wirt interagiert oder wie das Virus in die menschliche Zelle eindringt. Wir möchten auch herausfinden, ob es spezifische genetische Faktoren gibt, die den Verlauf der HIV-Infektion beeinflussen.

 

Und, existieren sie?
Das ist bis heute eines der Rätsel, die uns beschäftigen. Zwei Patienten haben HIV. Einer ist nach zwei Jahren tot, der andere ist nach 20 Jahren noch gesund. Man geht davon aus, dass dieser unterschiedliche Krankheitsverlauf auch genetisch bedingt sein muss. Die Kohorte zeigt uns auch die Richtung auf, in der wir in Zukunft forschen sollen. Die Konkordanz von Alterskrankheiten mit HIV ist zum Beispiel ein Thema, das uns noch sehr beschäftigen wird. Denn es gibt HIV-Medikamente, die das Risiko von Herzkrankheiten erhöhen. Dies gilt es in Bezug auf HIV-Senioren zu berücksichtigen. Dazu kommt die Frage der Verträglichkeiten, etwa wenn betagte HIV-Patienten gleichzeitig noch Medikamente gegen Herzkrankheiten, Arthritis oder Alzheimer einnehmen müssen.

 

Schadet dieser Mix an Medikamenten nicht irgendwann mehr als er nützt?
Das müssen Arzt und Patient zusammen abwägen und gegebenenfalls ein Medikament durch ein anderes ersetzen oder die Dosierungen anpassen.

 

Die Forschung im Bereich HIV geniesst einen exzellenten Ruf. Der Schweizerische Wissenschaftsrat lobte verschiedentlich die Zusammenarbeit unter den Spitälern. Zu Recht?
Die Zusammenarbeit funktioniert tatsächlich gut, und dank ihrem Erfolg hat die HIV-Kohortenstudie Nachahmung gefunden. So ist zum Beispiel die Förderung von Kohortenstudien ein Schwerpunkt des Förderungsprogramms für klinische Forschung des Schweizerischen Nationalfonds. Der zweite Schwerpunkt ist die Gründung eines Netzes von so genannten klinischen Forschungszentren. Das sind Kompetenzzentren in allen fünf Schweizer Universitätsspitälern, einschliesslich der Kantonsspitäler St. Gallen und Lugano, mit der Aufgabe, die patienten-orientierte klinische Forschung voranzutreiben, als Grundlage für die Entwicklung neuer Präventions-, Diagnose- und Therapieverfahren. In der Schweiz sind die Ressourcen personeller und finanzieller Art, die für die HIV-Forschung und -Behandlung zur Verfügung stehen, sehr adäquat.

 

Das hört sich an, als befänden Sie sich in einer optimalen Ausgangslage.
Aids geniesst, gemessen an den Patientenzahlen, eine grosse Aufmerksamkeit. Wir können uns nicht beklagen.

 

Welche Wünsche haben Sie an die Pharmaindustrie?
Was wir brauchen, sind Medikamente, die einfach in der Handhabung sind, die man beispielsweise nur einmal pro Tag nehmen muss, und Kombinationspräparate, bei denen verschiedene chemische Substanzen in einer Pille enthalten sind. Verbesserungsmöglichkeiten gibt es auch in Bezug auf die Nebenwirkungen. Die gegenwärtig populärste Behandlung kombiniert drei Substanzen, wovon eine – vor allem zu Beginn der Behandlung – ziemlich gravierende, neuropsychiatrische Nebenwirkungen wie Schlafstörungen verursacht und Albträume beim Patienten hervorruft.

 

Allen Fortschritten zum Trotz hat eine HIV-infizierte Person jeden Tag eine beachtliche Anzahl von Medikamenten zu schlucken. Gibt es keine Alternativen?
Tatsächlich befasst sich die Forschung auch mit den so genannten Depot-Präparaten. Ziel hierbei ist es, dass dem Patienten ein Medikamenten-Depot gespritzt werden kann und er anschliessend drei Monate lang Ruhe hat. Die Situation ist analog zu jener der Verhütungsmittel. Hier gelang es auch, ein Depot-Präparat zu entwickeln, das von den Frauen nur noch alle drei Monate eingenommen werden muss.

 

Wie erleben Sie die Einnahmedisziplin der Patienten?
Variabel. Aber die meisten nehmen ihre Medikamente regelmässig und gewissenhaft, sie haben das sozusagen in ihren Lebensstil integriert. Es gibt aber immer Patienten, die ihre Medikamente nicht nehmen, nicht nehmen können oder wollen. Als Arzt ist es meine Aufgabe, herauszufinden, warum. Es gibt Patienten, die mir sagen, sie hätten Angst, das Virus zu bekämpfen, wenn sie zuvor jahrelang gut mit ihm gelebt haben. Es gibt auch ideologisch bedingte Vorbehalte gegenüber Medikamenten von Patienten, die glauben, es sei an sich schlecht, Chemie einzunehmen. Eine Luxusmeinung, die sich nur Gesunde leisten können, nicht aber HIV-Infizierte.

 

Warum gelang es bis heute nicht, eine Impfung gegen HIV zu finden? Bei Masern, Pocken und Tollwut funktioniert es doch auch.
Wenn Sie Masern haben, werden Sie fast immer nach ein paar Wochen wieder gesund und nie mehr an Masern erkranken. Die Immunantwort eliminiert das Masernvirus und hält es ein Leben lang in Schach. Bei HIV ist es überhaupt nicht so. Hier gibt es zwar auch eine Immunantwort, doch diese eliminiert das Virus nicht, sondern lässt zu, dass das Virus das Immunsystem zerstört und der Patient in der Folge stirbt. Bei der Impfung gegen Masern wird ein masernähnliches Virus geimpft. Der Körper meint, das sei Masern, und gibt die Immunantwort, und wenn dann das richtige Masernvirus kommt, kann es infolge der Immunisierung des Körpers keine Wirkung mehr entfalten. Würde man nun analog dazu dem Menschen eine HIV-ähnliche Substanz impfen, wäre die Immunantwort auf den Impfstoff wohl ebenso wenig wirksam wie die Immunantwort auf das HIV selber.

 

Und darum gibt es keine Hoffnung auf einen Impfstoff?
Ja, wir müssen uns die Bekämpfung der Aids-Epidemie ohne solchen vorstellen. Theoretisch ist die Ausrottung des Virus möglich, indem alle HIV-Positiven behandelt werden und somit die Neuinfektionen auf null gesenkt werden könnten.

 

Erleben Sie im klinischen Alltag eine Stigmatisierung von HIV-Patienten?
Praktisch gar nicht. Anfang der 80er-Jahre gab es wohl in gewissen Spitälern, die keine Erfahrung mit HIV hatten, unter dem Personal eine irrationale Angst vor Ansteckung. Stigmatisierung ist heute aber wohl eher ein Problem ausserhalb der Spitäler. Ich finde es übrigens kontraproduktiv, die Stigmatisierung immer in den Vordergrund zu stellen. Denn: Für die meisten HIV-Patienten ist nicht die konkrete Stigmatisierung das Problem, sondern die Angst davor.

 

***

Als langjähriger Kämpfer gegen Aids geniesst Prof. Dr. med. Bernard Hirschel international grosses Ansehen. 1946 in Thun geboren, studierte er Medizin in Bern und Genf. Dem Studium liess er einen dreijährigen Aufenthalt in St. Louis, USA, folgen. 1980 kehrte er nach Genf zurück, um Klinikchef der Abteilung für Infektionskrankheiten am Universitätsspital zu werden. Mit seiner Frau und den drei Töchtern wohnt er in Vessy GE.