PUBLIKATION

LZ am Wochenende

ZUSAMMENARBEIT

Stefan Schuler (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

23.11.2019

KULTUR DES GEBäLKS

 

Die ländlichen Bauten der Schweiz sind Teil eines riesigen Forschungsprojekts, das Ende Jahr abgeschlossen ist. Glaube und Religion beeinflussten den Bau der Häuser ebenso wie das Aufkommen der Gebäudeversicherung.

 

«Sind ier öppä vom Heimatschutz oder am End no vo de Denkmalpfleg?» Benno Furrer wurde bei seinen Feldrecherchen nicht immer mit offenen Armen empfangen. Als er weiland ausrückte und an fremde Türen klopfte, um verheissungsvolle Bauernhäuser von innen zu sichten, war die Skepsis bei den Bewohnern manchmal gross. Was will der fremde Mann bei uns? Kann man den guten Gewissens hereinbitten?

 

Man konnte. Der 65-jährige Urner ist alles andere als ein unangenehmer Zeitgenosse. Kein Beamter, der irgendwelche Auflagen macht oder Kontrollen vornimmt, sondern ein heimatliebender Forscher, der sich für das baukulturelle Erbe interessiert. Furrers Dialekt, sein bodenständiger Habitus und das notwendige Fingerspitzengefühl sorgten letztlich dafür, dass er Einblick in unzählige Häuser nehmen durfte. «Einige Bewohner fühlten sich durchaus geehrt, dass sich jemand für ihr Haus und dessen Geschichte interessiert», erinnert sich  Furrer.

 

Das Projekt «Schweizerische Bauernhausforschung» - finanziert von den Kantonen und dem Schweizerischen Nationalfonds - wurde 1948 von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) initiiert. Der Forschungsinhalt erstreckt sich über die ganze Entwicklungsgeschichte der ältesten Bauten aus dem 12. Jahrhundert bis zu Häusern des 20. Jahrhunderts. Im Fokus steht aber nicht nur das Bauernhaus; zum Forschungsgegenstand gehören auch sämtliche dazugehörigen Nebengebäude wie Remisen, Scheunen für Gross- und Kleinvieh, Schuppen, Speicher, Alpgebäude und so genannte «Stöckli».

 

Künstler, Architekten, Touristen, Ethnologen, Volkskundler waren schon immer vom Bauernhaus fasziniert. Woher rührt Furrers Begeisterung für ländliche Bauten? «Mich fasziniert das handwerkliche Können, das der Bau von Bauernhäusern seit dem 13. Jahrhundert voraussetzte», so Furrer: «Bauherr und Handwerker mussten zuerst die der Bauaufgabe entsprechenden Bäume finden und sie im richtigen Zeitpunkt fällen, um jenes dauerhafte Holz zu bekommen, das für ein nachhaltiges Gebäude taugte.» Was oft vergessen geht: Das Baumaterial Holz liess früher gar nicht so viel Spielraum in der Konstruktion zu. Gewisse Proportionen in der Länge, Höhe und Breite waren durch die nutzbare Stammlänge schlicht vorgegeben. Bei Bauernhäusern aus Stein war das anders. Da konnte je nach Konstruktion ein Stein auf den anderen gelegt werden. Entsprechend entstanden – insbesondere im Engadin – teilweise sehr komplexe und voluminöse Gebäude mit einem hölzernen Kern und dicken, gemauerten Aussenwänden.

 

Und: Bauten, so Furrer, enthalten immer auch eine Aussage, wie Menschen leben. Ein Beispiel: In den alpinen Streuhöfen wechselten Bauernfamilien einst mehrmals jährlich zwischen den Höhen- und Nutzungsstufen. Da hatte man einen Talbetrieb mit Wohnhaus und Hauptscheune. Hinzu kam ein Maiensäss, ebenfalls mit einem kleinen Wohnhaus und es gesellten sich - je nach Hanglage – weitere drei bis vier Kleinscheunen hinzu. Der milch- und käseproduzierende Bauer in den Alpen benötigte zudem Unterkünfte in Form von Sennhütten. Ein einziger landwirtschaftlicher Betrieb konnte so gut und gerne bis zu zwanzig oder dreissig Kleinbauten umfassen. Schliesslich geben zahlreiche Bauten für die Obstverwertung, etwa Dörrhäuser, Trotten, Brennereien und Trestergestelle einen vertieften Einblick in diese spezifischen Betriebszweige der Landwirtschaft.

 

In der Innerschweiz ist Furrer auf viele Blockbauten aus Holz gestossen, die mit typischen Klebdächern, eine Art Schutzdach über den Fenstern entlang der Giebelfront, versehen sind. Diese Bauernhäuser kommen gegen aussen oftmals schlicht daher sind dafür im Innern üppig dekoriert und bemalt. Vor allem auf die gute Stube legte man Wert. Reichhaltig geschnitzte Holzbüffets, Kommoden und kunstvolle Täfelung verwandelten das Wohnzimmer in einen geradezu repräsentativen Raum. Ganz im Gegensatz zur Küche. «Sie genoss im bäuerlichen Alltag keinen hohen Stellenwert. Schliesslich war sie das Wirkungsfeld der Frauen», so Furrer. Der Raum verfügte meist nur über wenig Tageslicht. Wasserleitungen, die direkt zu Haus und Küche führten, gab es lange Zeit keine. Hatte der Bauer ein wenig Geld auf der Seite, wurde konsequent in den Stall investiert oder man kaufte eine Kuh oder ein Stück Land, was wiederum Ertrag abwarf. Auch der Glaube und die Religion beeinflussten die Ausstattung der Bauernhäuser stark. In reformierten Gegenden fielen Furrer und seinem Forschungsteam die Hausfassaden mit Bibelsprüchen in dekorativen Schriften auf. Bei Innerschweizer Bauernhäuser fehlen Hausinschriften fast ganz, dafür findet man anders vor: reich geschmückte Herrgottswinkel in Stubenecken oder frivole Zeichnungen, wie Nacktdarstellungen von Adam und Eva sowie anmutige «Bildstöckli», also eine Art Mini-Kapellen im Freien.

 

Konsultation von Grundbüchern, Katasterplänen und Akten zur Bauholzvergabe - das Forschungsteam um Furrer verbrachte viel Zeit in Archiven von Einwohner- und Kirchgemeinden sowie Korporationen und machte sich die unterschiedlichsten Quellen zunutze - sofern vorhanden. In der einst dezentral regierten Innerschweiz fehlten teilweise wichtige Quellen zur Hausforschung. Im zentral regierten Mittelland sah es besser aus. Hier mussten Baugesuche an einer bestimmten Stelle  eingereicht werden und gab es schon 1812 eine obligatorische Gebäudeversicherung und entsprechende Lagerbücher. Dank diesen Dokumenten konnten unter anderem Eigentümer, Gebäudefunktion sowie Materialien für Dach- und Wandaufbau eruiert werden. Die Gebäudeversicherung beeinflusste indirekt auch die Materialwahl der Bauten: «In Kantonen, die schon früh eine obligatorische Gebäudeversicherung kannten, findet man tendenziell weniger Holzbauten, weil leicht brennbares Material die Versicherungsprämien in die Höhe trieb», so Furrer.

 

Und welches sind für Furrer die  spannendsten und überraschendsten Erkenntnisse aus der langjährigen Forschungstätigkeit? Seine Mine erhellt sich: «Dazu gehört die Entdeckung von mehr als zwei Dutzend spätmittelalterlichen Blockbauten in den Kantonen Schwyz und Uri.» Ihre charakteristischen Merkmale sind die fassadensichtigen Boden- und Deckenbohlen und das Fehlen von Firstkammern. Solche Wohnhäuser haben sich im Talkessel von Schwyz in erstaunlich hoher Zahl erhalten. Einige sind bis heute bewohnt, andere stehen leer. Das so genannte Haus «Bethlehem» aus dem Jahre 1287, das in Schwyz steht, wurde 1989 renoviert und ist seither ein Wohnmuseum. Ein ähnlich spektakulärer Blockbau, der 1336 in Ibach gebaut wurde, kam ins Freilichtmuseum Ballenberg. Der bisher älteste bekannte Bau aus dem Kantonshauptort Schwyz, das Haus «Niederöst» von 1176, wurde 2001 abgebrochen, dann mehrere Jahre eingelagert und fand 2015 in Morgarten eine gesicherte Bleibe.

 

A propos Zeugen ausgereifter Baukultur: Was geht dem Schweizer Bauernhausforscher durch den Kopf, wenn er hört, dass die Schwyzer Regierung ein 700 Jahre altes Haus zum Abriss freigibt, das aus der Gründungszeit der Eidgenossenschaft stammt? «Die Schwyzer Regierung ignoriert den Wert dieser Bauten. Das zeugt nicht wirklich von einem Verständnis und Bewusstsein für Geschichte», stellt Furrer fest. Bei besagtem Haus an der Lauigasse in Steinen handle es sich um ein Objekt, das zu einer europaweit einmaligen Holzhäuserlandschaft gehöre. «Andernorts würde so ein Haus zum UNESCO Welterbe gehören. Im Kanton Schwyz will man es abreissen mit der Begründung, darin lasse sich nicht komfortabel wohnen.»  Diese Haltung ist für Furrer von Desinteresse, Kultur- und Phantasielosigkeit geprägt. Da lobt er sich den Kanton Graubünden, wo generell eine hohe Sensibilität und ein Bewusstsein für das Kulturgut Bauernhaus vorhanden sei. Furrer selber verbringt seit 25 Jahren seine Ferien in Ftan in einem traditionellen Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert. «Die Wohnräume wurden gekonnt und sogfältig modernisiert, so dass der Geist der früheren Zeit immer noch spür- und sichtbar ist.»

 

ENDE LAUFTEXT

 

Box - Regionale Unterschiede

Schweizer brüsten sich gerne damit, regionaltypische Unterschiede zu kennen. Doch die Sache mit den ausgeprägten regionalen Merkmalen stimmt nur bedingt. Gross war die Vielfalt eigentlich nur im 18. Jahrhundert. Je weiter zurück man blickt, desto ähnlicher sind sich die Bauernhäuser. Das gleiche gilt für das 19. und 20. Jahrhundert, wo Bauernhäuser wieder sehr ähnlich konstruiert wurden. Als Hypothese darf dennoch von regionaltypischen Bauten ausgegangen werden und es lässt sich beispielsweise sagen: Typisch für das Engadin  sind die wuchtigen Steinmauern, die oftmals mit der Sgraffito-Technik verziert sind, wobei Scheune und Wohnhaus durch ein grosses Portal und den dahinter anschliessenden Sulèr verbunden sind. In der Ostschweiz wiederum sind Fachwerkhäuser verbreitet und in der Westschweiz und im Tessin dominiert der Steinbau. In der Innerschweiz gibt es viele Blockbauten aus Holz mit Klebdächern, eine Art Schutzdach über den Fenstern entlang der Giebelfront. Beim typischen Emmentaler Bauernhaus wiederum erstreckt sich ein langes Walmdach über Wohnbereich, Tenne und Stall. Hinzu kommt oft ein verzierter Giebelbogen am Wohnhaus, die so genannte «Ründe».

 

«Die Bauernhäuser der Schweiz», herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde. www.volkskunde.ch