JAHRESBERICHT GVRZ
Eine neue Software der ETH Zürich hilft, Schwachstellen in der Abwasserreinigungsanlage der ARA Schönau aufzudecken. Daniel Braun, Leiter des Labors für Umweltingenieurwissenschaften der ETH Zürich, zieht im Gespräch eine positive Zwischenbilanz.
Seit kurzem ist auf der ARA Schönau die Software Senara im Einsatz. Die Abkürzung bedeutet „Sensor Netzwerk für Abwasserreinigungsanlagen“. Was kann diese Software?
Die Software macht die vorhandenen Informationen über die biologischen Prozesse innerhalb der Abwasserreinigung für den Betreiber verständlich und greifbar. Damit dies möglich ist, müssen die Messwerte von vielen verschiedenen Sensoren in den Belebungsbecken miteinander verglichen, strukturiert und so visualisiert werden, dass sie auf dem Monitor intuitiv verständlich werden. Senara verwendet hauptsächlich eine Darstellung, bei der die Daten farbcodiert wiedergegeben werden. Mit Hilfe der Legenden kann den Farben ein eindeutiger Wert zugeordnet werden. Der Benutzer kann zudem gut durch die grossen Datenmengen navigieren.
Geben die vielen farbigen Streifen letztlich Antworten auf die Frage, wie man die Anlage auf intelligente Weise weiterentwickeln kann?
Ja, Senara zeigt detailliert auf, wo sich die Schwachstellen einer Abwasserreinigungsanlage befinden. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Dosierung von Sauerstoff durch feinblasige Belüftung. Diese soll möglichst optimal an die aktuelle Abwasserlast angepasst werden, so dass die Leistungsfähigkeit der Gesamtanlage erhöht werden kann. Im Fokus steht die Analyse der verschiedenen Lastfälle. Wenn es zum Beispiel stark regnet oder viel schmutziges Wasser aus Industriebetrieben anfällt, nimmt die Last in der Kläranlage massiv zu. In solchen Fällen muss genügend belüftet werden, damit alles Ammonium oxidiert werden kann. Bei schwächerer Last reduziert man die Belüftung aus energetischen Gründen und damit die Bakterien den Sauerstoff vom Nitrat benutzen müssen, was die Denitrifikation verbessert. Das optimale Sauerstoffmanagement muss automatisiert werden. Senara dient dazu solche Regelungsstrategien zu entwickeln und zu optimieren.
Senara ist ein Produkt, das über mehrere Jahre am Labor für Umweltingenieurwissenschaften entwickelt worden ist. Wann fiel der Startschuss für Senara?
Die Anfänge von Senara gehen auf das Jahr 2007 zurück, als ich angefangen habe, am Labor für Umweltingenieurwissenschaft (LUIW) Daten in der Gesamtheit zu analysieren. Zu dieser Zeit bearbeitete ich Projekte für die ARA Kloten-Opfikon und ARA Werdhölzli im Kanton Zürich. Mit Matlab wurde eine sehr leistungsstarke Programmierumgebung ausgewählt, die es jungen Ingenieuren ermöglicht, selber Softwareprototypen zu verwirklichen. Die Kernkompetenz unseres Labors liegt beim Verständnis der biologischen und hydraulischen Prozesse und in der Sensortechnik. Dies gibt uns das Wissen, die Signale mathematisch so weiterzuverarbeiten, dass aus Signalen lesbare Informationen werden.
Wie kam die Zusammenarbeit mit der ARA Schönau zustande?
Die Zusammenarbeit hat sich anlässlich eines Weiterbildungskurses des Verbandes Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute VSA ergeben, der im Herbst 2012 in Emmetten (NW) stattfand und vom LUIW organisiert wurde. Der Betriebsleiter der ARA Schönau, Martin Grob, kam an dieser Veranstaltung auf mich zu und erkundigte sich, ob die ETH Zürich die ARA Schönau in der strategischen Planung unterstützten könnte. Nach einigen kleineren gemeinsamen Projekten haben wir die Zusammenarbeit durch Senara intensiviert.
Nicht nur Sie als Laborleiter arbeiten mit, ein ganzes Team beschäftigt sich mit den Daten der ARA Schönau.
Alleine wäre ein solches Projekt gar nicht zu bewerkstelligen. Da braucht es mehrere versierte Leute, die sich über längere Zeit hinweg mit der komplexen Materie beschäftigen. Ein Glücksfall war, dass ich im Jahr 2010 mit Luzia von Känel eine junge Studentin anstellen konnte, die eine starke Affinität zu IT und Softwareentwicklung hatte und gleichzeitig auch über tiefes Prozesswissen und Prozessverständnis verfügte. Frau von Känel hatte einen massgebenden Einfluss auf das Senara Projekt. Sämtliche Programmierarbeiten wurden von ihr durchgeführt, zudem war sie in die wichtigsten strategischen Entscheide involviert, die letztlich zum Erfolg führten. Da wir ein kleines Team sind, konnte das Projekt effizient und schlank aufgegleist und vorangetrieben werden. Mit Professor David Zogg von der Fachhochschule Nordwestschweiz war auch ein Spezialist für Regelungstechnik involviert, der uns ebenfalls toll unterstützt hat.
Im Fokus von Senara stehen drei Ziele: Vollständiger Abbau des Ammoniums, optimale Denitrifikation und ein tieferer Energieverbrauch. Wie sehen die Prioritäten bei der Zielerreichung aus?
Das Hauptziel ist der Gewässerschutz, das heisst im Endeffekt die vollständige Oxidation von Ammonium zu Nitrat. Eine möglichst optimierte Denitrifikation ist in der Abwasserreinigung erwünscht, weil sich die Schweiz über die internationale Nordseeschutz Konferenz verpflichtet hat, die Nitratfracht im Rhein zu verringern. Im Falle der ARA Schönau kommt noch die biologische Phosphorelimination dazu. Alle diese Ziele können erreicht werden, indem man den Sauerstoffeintrag der Belüftung gezielt an den Belastungszustand der ARA anpasst. Energieeinsparungen sind dann sozusagen ein hochwillkommenes Nebenprodukt einer guten Regelungsstrategie. Zudem untersuchen wir mit Off-Gas-Messungen die Effizienz der Tiefenbelüftung. Das heisst, nach Einblasen der Luft am Beckenboden wird an der Wasseroberfläche online gemessen, was effektiv verbraucht wurde. Die Tiefenbelüftung der Belebungsbecken ist mit 60% – 70% des Gesamtstromverbrauchs der dominante Energieverbraucher auf einer ARA und schon kleine bis mittelgrosse Verbesserungen bringen eine signifikante Energieeinsparung.
Kann schon eine Zwischenbilanz von Senara gezogen werden?
Die Transparenz der biologischen Prozesse konnte bis jetzt wesentlich verbessert werden. Es ist gelungen, hydraulische Asymmetrien in der Lastverteilung des Abwassers zu messen und wir können nun gezielt Gegenmassnahmen planen. Nach aktuellem Wissensstand wäre beispielsweise eine Unterteilung der einzelnen Becken sinnvoll, um das Sauerstoffmanagement zu optimieren. Die heutigen Becken sind sehr lang und entsprechend unterschiedlich ist die Sauerstoffdosierung innerhalb der einzelnen Becken.
Die Installation einer neuen Software hat auch Konsequenzen für die Mitarbeiter in Schönau. Sind sie alle mit dem Software-Tool vertraut?
Das LUIW arbeitet eng mit GVRZ-Labor-Leiterin Marije de Jong und Betriebsleiter Martin Grob zusammen. Die beiden verstehen die Software innerhalb der GVRZ Crew momentan am besten. Wir von der ETH sind gegenwärtig immer noch damit beschäftigt, zu überprüfen, wie weit die abgeleiteten Informationen prozessrelevant sind. Eine grosse Herausforderung ist dabei auch eine möglichst einfache Kalibrierung der Sensoren im Belebungsbecken. Durch die spezielle Umgebung in der Abwasserreinigung sind die Signale der Sensoren häufig nicht so stabil und es braucht intelligente Strategien, wie die Sensoren mit möglichst geringem Aufwand und genügender Präzision kalibriert werden können.
Wie stark involviert ist der Rest der Belegschaft?
Das Ziel ist, dass wir in einer weiteren Stufe auch die anderen Mitarbeiter der ARA Schönau mit Senara vertraut machen. Wir wollen erreichen, dass alle Angestellten ein Gefühl für die Dynamik der Anlage entwickeln. Schliesslich sind es die Betriebsarbeiter, die über langjährige Erfahrung auf der Anlage verfügen. Sie kennen viele Tipps und Tricks und sind nur schon aus Eigeninteresse daran interessiert, dass keine Leerläufe produziert werden. Mittel- und langfristig sollen darum alle Betriebsarbeiter in der Lage sein, die wichtigsten Darstellungen in Senara zu interpretieren. Mit Hilfe der Software soll auch eine gemeinsame Sprache entwickelt werden, die es erlaubt, dass die Schweizer Kläranlagen untereinander besser kommunizieren und voneinander lernen können.
Haben Sie sich von Anfang an auf Abwasserreinigung spezialisiert? Ist dies sozusagen Ihr Lebensthema in der Forschung?
Nein. Ich bin ursprünglich Chemiker und habe nach dem Studium lange in einer sehr erfolgreichen Forschungsgruppe in der Molekularbiologie gearbeitet. Vor 15 Jahren wechselte ich an das LUIW. Für mich kam dieser Schritt einer kompletten Neuorientierung gleich. Fasziniert an den Umweltingenieurwissenschaften haben mich vor allem die konkreten Resultate, die mit dieser Forschung erzielt werden können und der starke Praxisbezug. Bis heute bin ich begeistert von der Komplexität der stofflichen Umwandlungsprozesse, die durch die Bakterien im Belebungsbecken stattfinden und von der scheinbaren Einfachheit und Robustheit des Reinigungsprozesses.
Handelt es sich bei Senara um ein reines Forschungsprojekt der ETH Zürich oder ist es eine kommerzielle Zusammenarbeit?
Senara ist ein Forschungsprojekt des Labors für Umweltingenieurwissenschaften und damit der ETH. Mittlerweilen erzielen wir über den Verkauf von Lizenzen und durch unsere Beratungen so viele Einnahmen, dass sich das Projekt selbst finanziert. Somit wird es möglich, dass wir junge, begabte Ingenieure zwei bis drei Jahre anstellen können und mit ihnen gemeinsam die Projekte bearbeiten. Diese Leute arbeiten auch bei der Lehre an der ETH mit, so dass die Studierenden der Umweltingenieurwissenschaften Vorbilder haben, die konkrete Arbeiten auf realen Anlagen durchführen. Jede Analyse von Daten generiert Mehrwissen, insofern ist der Prozess für den Mehrwert fast wichtiger als die nackte Software. Die Ausbildung unserer Ingenieure soll nicht im luftleeren Raum passieren, sondern direkt in die Praxis führen. Für die Studierenden ist es darum sehr gut, wenn sie Teil eines solchen Projekts sein können. Abgesehen davon sind die Studenten viel motivierter, wenn sie praxisrelevante Themen bearbeiten können und eine Chance erhalten, moderne Technologien zu etablieren. Es ist also nicht nur eine win-win-Situation für die ARA Schönau und die ETH, sondern auch eine solche für die Lehre im Labor für Umweltingenieurwissenschaften.
Das klingt sehr euphorisch.
Das ist richtig so und deckt sich mit meinem Empfinden. Mir ist nicht entgangen, dass die ARA Schönau sehr fortschrittlich denkt und viel Wert darauf legt, dass die Kernkompetenzen innerhalb der Anlage gestärkt werden. Positiv zahlt sich im ganzen Projekt aus, dass im vorliegenden Fall die Abwasserreinigung und die Kanalisation von einer Hand gemanagt werden und beides unter dem gemeinsamen Dach des GVRZ geschieht. Die ARA Schönau ist ein Element, das an die Anforderungen durch das tatsächliche Entwässerungsverhalten im Kanalnetz abgestimmt werden kann und umgekehrt. Das ist ein Vorteil, wenn es darum geht, das Gesamtsystem zu optimieren. Ebenfalls zu Gute kommt uns, dass die Sensoren in den letzten Jahre günstiger und verfügbarer wurden und uns deutlich mehr Computerrechenleistung zur Verfügung steht, als noch vor fünf oder zehn Jahren.
Gibt es noch andere Kläranlagen in der Schweiz oder im Ausland, die mit Senara arbeiten?
Die Software wurde schon für acht verschiedene ARAs konfiguriert und wir haben die Daten dieser Anlagen in unterschiedlichem Detailierungsgrad analysiert. Momentan steht für unser Labor die ARA Schönau ganz klar im Vordergrund. Denn hier lernen wir am meisten über die Lokalinformationen bezüglich Sauerstoff- und Ammoniumkonzentration.
Sind Sie mit Senara allein auf weiter Flur oder gibt es auf dem Markt ein Konkurrenz-Produkt?
Die Firma Rittmeyer hat ebenfalls eine Software entwickelt, die Ritune heisst. Mit dieser können Betriebsdaten analysiert werden, wobei das Grundkonzept der Analyse anders gelegt ist: das Ziel von Ritune ist es, mit „Data-Mining“ die relativ schwach strukturierten Betriebsdaten zu durchforsten und aus den erkannten Mustern Handlungen abzuleiten. Ich rechne damit, dass sich die verschiedenen Ansätze von RITUNE und Senara gegenseitig befruchten und am Ende die Abwasserreinigung von der gegenseitigen Konkurrenz profitieren wird. Man darf nicht vergessen: Die Abwasserreinigung ist eine evolutionäre Wissenschaft. Man kommt durch jede Analyse im Verständnis einen Schritt weiter und generiert immer mehr Wissen. Ich bin überzeugt, dass Senara Bestand haben wird und dass das damit generierte Wissen den Ausbau der Anlage positiv beeinflussen wird. Es ist auch denkbar, dass das Prototyping unserer Methode früher oder später von einer anderen Software übernommen wird.
Als staatliche Hochschule haben Sie ein Interesse, dass Ihre Resultate angemessen publiziert werden.
Ja, die Auswertung der Daten wird publiziert und wir liefern auch Vorschläge, wie diese nutzbringend eingesetzt werden können. Wir pflegen auch Kontakte zu Forschungsteams im Ausland und wollen diese noch verstärken. Die Idee ist, unseren Ansatz mit der prozessorientierten Datenvisualisierung in den nächsten Jahren im internationalen Umfeld mit anderen Methoden zu vergleichen und zu verbessern. Allerdings muss man bedenken, dass die Siedlungswasserwirtschaft aus Gründen der Gesetzgebung und wegen unterschiedlicher topologischer, bevölkerungsspezifischer und politischer Gegebenheiten stark national geprägt ist. Es gibt also „typisch“ schweizerische Anlagen und „typisch“ französische Anlagen, die alle ihre Eigenheiten haben. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Schweiz - und da vor allem die EAWAG (Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz) - international gesehen zum Teil eine starke Führungsrolle übernimmt.
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Daniel Braun, Jg. 1961. Studium als Chemiker FH und in Interdisziplinären Naturwissenschaften an der ETH Zürich. Daniel Braun hat während zwölf Jahren in der Gruppe von Prof. Kurt Wüthrich auf dem Gebiet Molekularbiologie und Biophysik geforscht. Im Jahr 2000 stiess er zum Labor für Umweltingenieurwissenschaften der ETH Zürich, dessen Leitung er seit 2005 inne hat. Daniel Braun setzt sich schwerpunktmässig damit auseinander, wie man Prozesswissen mit Sensordaten koppelt und dadurch einen Mehrwert gewinnt. Er wohnt in Winterthur und hat eine Familie mit drei erwachsenen Kindern.