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ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

11.5.1995

SüSS WAR NUR DER ZUCKER IM TANK

 

Wie sich ein Paar häufiger vor dem Richter als zu Hause traf. Die Liebes- und Trennungsgeschichte von Maria und Walter.

 

War es in der «Windrose»? Maria Kalbermatten erinnert sich nicht mehr exakt, wo sie ihren Freund kennengelernt hat. Auf jeden Fall war es in einer Autobahnraststätte an der N 1, am 23. Juli 1993. Da ist sie sich ganz sicher.


«Nein», dementiert Walter Baumgartner, «das war ganz anders.» Maria habe er über das gelbe Kleinanzeigenblatt «Fundgrube» kennengelernt. «Auf mein Inserat schrieben mir 61 Frauen, dazu gab es unzählige Telefonanrufe.» Die Nachricht, die Maria Kalbermatten in ihrem Walliser Dialekt auf Band hinterliess, war knapp: «Ich bin 1,64 Meter gross und 46 Kilo schwer.» Gemäss seiner Version haben sie sich daraufhin das erste Mal am 6. Juli zum Nachtessen im Restaurant «Bubenberg» bei Liestal getroffen. Da ist er sich ganz sicher.


Wie auch immer es angefangen hat - ausgegangen ist es unerfreulich. Die Verbindung hat sich als explosiv herausgestellt und zu einer Konkubinatsschlacht geführt, die noch heute das Gericht beschäftigt.


«Ich fand sie wirklich attraktiv, sie konnte sich sehr gut zurecht machen», blickt Walter Baumgartner zurück. Maria Kalbermatten: «Ich hatte Mitleid mit ihm.» Die grosse Liebe ist es also nicht, aber die beiden hoffen, es würden sich mit der Zeit gegenseitig Gefühle entwickeln. Hoffnungsfroh beschliessen sie nach drei Monaten des Zusammenseins, auch zusammen zu wohnen. Die Voraussetzungen allerdings sind nicht optimal: Der gelernte Maschinenmechaniker ist arbeitslos und krebskrank, die Modeschmuckfirma der Geschäftsfrau läuft alles andere als gut. Vom Spitalbett aus telefoniert er sich durch die Wohnungsinserate. Im Aargauischen Kirchleerau schliesslich findet er das ideale Heim. Das fünfeinhalb Zimmer grosse Einfamilienhaus ist gut gelegen und günstig dazu. Am 30. November 1993 unterzeichnen sie solidarisch den Mietvertrag, einen Monat später ziehen sie ein.


Im Zügelwagen stauen sich nicht nur Möbel, sondern auch eine Menge Klunker, Ringe und Ketten. «72 Bananenschachteln Modeschmuck haben wir geschleppt», erinnert sich der bärtige Baumgartner. Er ist gross und schwer, «wie der Bruder von Bud Spencer», meint er. Im Unterschied zum filmschauspielenden Haudegen schlage er aber nicht drein, er sei ein «Otto Normalverbraucher».


Weil er als solcher nicht in Discos gehe, suche er Frauen via Gratis anzeiger. Auch die Serviertochter, mit der er elf Jahre liiert war, hatte er auf diesem Weg kennengelernt. Zwar ging die Beziehung in die Brüche, aber «es war eine saubere Sache». Was man von dieser Konkubinatsauflösung nicht sagen kann.


Am 10. März 1994, nach elf Wochen Gemeinsamkeit im trauten Heim, setzt Maria Kalbermatten ihren Freund vor die Tür. Nicht wegen der 500 Franken, die er ihr gestohlen haben soll. «Grund war ein einschlägiges Inserat in der «Fundgrube».» Baumgartner hatte sich auf eine Anzeige unter der Rubrik «Sie sucht ihn» gemeldet und eine andere als die gemeinsame Adresse angegeben. Dass es «ein einschlägiges Inserat» ist, findet Maria Kalbermatten heraus, indem sie am Kiosk ein zweites Heft kauft und nachschaut, welche Anzeige aus ihrem Exemplar herausgeschnitten wurde. Unter diesen Umständen ist sie nicht mehr bereit, mit dem Freund unter einem Dach zu leben. Für ihn ist das zwar ärgerlich, aber nicht «allzu tragisch»; in Hindelbank hat er noch immer seine alte Wohnung.


Sie greift zum Hörer und ruft ihn an. Er könne seine Ware auf den Garagenplatz abholen: Videorecorder, Mikrowellenofen und allerlei anderes, was die zwei zum gemeinsamen Glück brauchten. An diesem Abend regnet es. Damit sein Hab und Gut nicht total durchnässt wird, setzt sich Baumgartner sofort ans Steuer und fährt nach Kirchleerau. Dort muss er feststellen, dass sein Hausschlüssel nicht mehr ins Schloss passt. Er holt die Polizei. Dann packt er die Ware ein und sagt adieu.


Auf den 18. April 1994 wird ein zweiter Termin für das Abholen des restlichen Hausrats vereinbart, darunter ein weisser Staubsauger. Diesmal ruft sie die Polizei. Sie behauptet, er wolle mit Gewalt ins Haus eindringen. Mit an den Helgen 205 - so die Anschrift der Liegenschaft in Kirchleerau - fährt auch Madeleine. Baumgartners neue Freundin, ebenfalls via «Fundgrube» kennengelernt, nimmt frei, «um als Zeugin dabeizusein». Es lohnt sich, denn die Szenen, die sich vor dem Haus abspielen, sind filmreif: Polizisten, Nachbarn - alle kommen zu ihrem Auftritt, vor allem die Hauptdarsteller. Maria Kalbermatten verbietet ihrem Exfreund lautstark den Zutritt zur Wohnung, weil er gar nicht Mieter sei. Daraufhin holt er den Vertrag aus seinem Aktenkoffer und beweist der Polizei, dass nicht sie, sondern er Erstunterzeichner des Mietvertrages ist.


Seither scheuen die beiden keinen Aufwand, um einander anzu schwärzen. Sie behauptet, er habe ihr Zucker in den Tank geschüttet und im Dorf herum er zählt, sie hätte ein Verhältnis mit einem Dorfpolizisten. Zudem versuche er, unter Nennung falscher Personalien bei diversen Amtsstellen Auskünfte über sie zu erhalten. Er wirft ihr Beschimpfung, Ehrverletzung und Verleumdung vor und behauptet, sie belästige ihn telefonisch, weswegen er im Januar 1995 bei den PTT eine Fangschaltung beantragt: Drei der anonymen Anrufe stammen vom Anschluss des derzeitigen Freundes von Maria Kalbermatten, drei weitere von einer Telefonkabine in Bern, einmal kommt der Anruf von Kalbermattens Schwager.


Auch die «Fundgrube» kommt noch einmal zum Zug. Diesmal inseriert Maria Kalbermatten, um andere Frauen vor ihrem Expartner zu warnen. «Wer kennt diesen Mann?» heisst es in grossen Lettern, beschrieben wird W. Baumgartner, Dorfstrasse 23, Hindelbank, Jahrgang 57. «Bitte melden Sie sich.» Das erhoffte Echo betroffener Frauen bleibt aus. Statt dessen meldet sich ein Mann: Walter Baumgartner, der sich bei der Inserentin erkundigt, was denn dieser Unsinn wieder soll.


Irritierend in diesem Zusammenhang ist nicht die Aktion Maria Kalbermattens, sondern die Tatsache, dass die Dorfstrasse 23 am 17. Januar 1995, als die Anzeige erscheint, nicht mehr bewohnbar ist. Am 9. Dezember brannte Baumgartners Wohnung in Hindelbank aus. Als er dies vernahm, weilte er im Wallis bei Bea. Sie ist seine neuste Partnerin, er hat sie nicht via Inserat in der «Fundgrube» kennengelernt. Sondern via Inserat in der «Glückspost».


«Brandstiftung!» fährt es ihm durch den Sinn. «Ein Racheakt von Madame!» wie er seine ehemalige Geliebte Maria heute nennt. Sie wiederum ist der festen Überzeugung, «dr Böimgartner» habe die Bude selber angezündet. Falsch liegen beide. Die Brandexpertenkommission kommt zum Schluss: Verantwortlich war ein defektes Staubsaugerkabel. «Unmöglich», findet Maria Kalbermatten. Erstens habe er schon bei ihr nie Staub gesaugt, zweitens habe er den weissen Staubsauger damals im Helgen 205 gar nie abgeholt. Dass sich «dr Böimgartner» in der Zwischenzeit selber einen Sauger gekauft hat, schliesst sie kategorisch aus. «Sie meint», sagt er beleidigt, «ich hätte monatelang nicht staubgesaugt.»


«Ein endloser Krieg ist das», findet inzwischen Walter Baumgartner, und Maria Kalbermatten möchte «am liebsten gar nichts mehr vom Ex hören». Zwangsläufig aber trifft man sich wieder - am 31. März 1995 vor dem Bezirksgericht Zofingen. Die Anklage gegen ihn lautet: Nötigung, Drohung und Missbrauch des Telefons. Nötigung, weil er der Klägerin ernstliche Nachteile angedroht und ihre Handlungsfreiheit eingeschränkt habe. Drohung, weil er sie habe «fertig machen» und «innert 14 Tagen in die Klinik» bringen wollen. Telefonmissbrauch, weil er zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen habe. Dazu kommt der Vorwurf der sexuellen Belästigung, der allerdings gar nicht verhandelt wird.


Die Anklage gegen sie: Irreführung der Rechtspflege, mangelnde Aufmerksamkeit beim Fahren beziehungsweise Nichtbeherrschen des Fahrzeuges sowie Nichtgenügen der Meldepflicht. Er wird in allen drei Punkten freigesprochen, einen Schuldspruch gibt es lediglich für sie: Beim Rückwärtsfahren mit ihrem Toyota ist sie gegen Nachbars Gartenzaun geknallt. Von Herzen gönnt ihr der Exfreund die Busse, wenn es sich auch nur um bescheidene 100 Franken handelt.


Einigermassen genervt äussert sich der Gerichtspräsident zur Konkubinatsschlammschlacht. Es handle sich hier um einen Missbrauch der Polizei, der Behörden, der Gerichte und auch der Anwälte. Zwischen den Parteien im Fall Baumgartner/Kalbermatten ist ein reger Briefwechsel in Gang. Sein Mandant, schreibt Baumgartners Anwalt an Kollega, habe die Exfreundin nicht nur bei der Bestreitung des gemeinsamen Lebensunterhaltes unterstützt, sondern auch die inzwischen konkurs gegangene Schmuckfirma MM Collection mit einem Gesamtbetrag von 41 777.80 Franken mitfinanziert. «Durch entsprechendes kooperatives Verhalten ihrerseits könnten in jeder Hinsicht umfangreiche Umtriebe vermieden werden.»


Am 25. April 1995 sollten sich die Wege der beiden wieder kreuzen. Pünktlich und nervös, mit Anzug und Krawatte, erscheint Walter Baumgartner um 17 Uhr vor dem Bezirksamt Zofingen zur Schlichtungsverhandlung. Sie erscheint nicht, sie sei krank. Die Diskussion über die Forderungsklage von 9000 Franken an ausstehenden Mietzinsen muss das nächste Mal geführt werden.


Zurzeit nächtigt Walter Baumgartner bei einem Bekannten in einem «Knechtengaden» in Hindelbank und wartet, bis die Brandruine an der Dorfstrasse 23 wieder bezugsbereit ist. Arbeit hat er keine, dafür Schulden in der Höhe von 20 000 Franken. Hin und wieder trifft er sich mit ehemaligen Freunden von Maria Kalbermatten, die sich zwecks Vergangenheitsbewältigung im «Kreis der durch Frau K. Geschädigten» zusammengeschlossen haben. Sie wohnt bei ihrem jetzigen Lebensgefährten, mit dem sie nach dem MM-Collection-Konkurs eine neue Modeschmuckfirma gegründet hat. Baumgartner prophezeit: «Er ist der nächste in unserem Kreis.»


Zusammengelebt haben sie weniger als drei Monate. Gegeneinander prozessieren sie seit über einem Jahr. «Ein schlechtes Gefühl», sagt Maria Kalbermatten, und Walter Baumgartner schliesst an, «habe ich eigentlich von Anfang an gehabt.» In diesem Punkt, endlich, sind sich beide einig.

 

ENDE LAUFTEXT


Allzeit bereit zum Streit


Die Unmenge an Bagatellfällen, die heute die Justiz lähmt, nimmt stetig zu. Wegen privater Auseinandersetzungen marschieren Leute immer häufiger vor die Gerichtsschranken. Von dieser Tendenz sind vor allem die kantonalen Gerichte betroffen, die das Urteil nicht nur auf dessen Willkür, sondern auch auf dessen Ermessen überprüfen können. Klassische Nachbarsstreitigkeiten (Sträucher, die über die Grenze wachsen, oder übelriechende Komposthaufen) führen dazu, dass sich die Gerichte nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren können, unter den Akten ersticken und gleichzeitig gravierende Delikte ungesühnt bleiben.


«Drohung, Nötigung, Ehrverletzung und der Missbrauch des Telefons sind weitere Anklagen, die die richterlichen Behörden auf Trab halten», sagt Urs Flury vom Zuger Kantonsgericht. Ganz allgemein würden vermehrt sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft, so dass die Gerichte der Prozess flut nicht mehr Herr werden. Oft seien sich die Leute bei ihrem unverhältnismässigen Vorgehen gar nicht bewusst, welche Folgen ihr Tun hat. «Aufwand und Ertrag», so der Burgdorfer Untersuchungsrichter und Gerichtspräsident Peter Urech, «stehen in keinem Verhältnis.» Dies gelte in erster Linie für Beschimpfungen und üble Nachrede. «Es geht hier meistens nicht um den Rechtsfrieden, sondern um eine Besserwisserei oder um das Prinzip.» Eine Erklärung für den Drang, eine Lappalie vor Gericht zu regeln, hat Urech keine. Für viele sei es einfach eine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. «Die Unfähigkeit, eine private Angelegenheit auch privat zu schlichten, manifestiert sich schliesslich in der Prozessflut.»


Es ist ein rechtsstaatliches Prinzip, dass jeder und jede Zugang zum Gericht hat. Das geltende Legalitätsprinzip verlangt, dass selbst absolute Bagatelldelikte untersucht und verfolgt werden, auch wenn es sich nicht auf die Bestrafung des Täters auswirkt.Weil finanziell Benachteiligte Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege haben, wirken die Gerichtskosten nicht abschreckend. «Die Hemmschwelle», räumt Urech ein, «wird allerdings grösser, wenn wir Gerichtskostenvorschüsse verlangen.»