PUBLIKATION

NZZ am Sonntag
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

30.11.2008

BEWäHRUNG AUF DEM BERG

 

Ausgangssperre, Kontaktkontrolle, gemeinsames Morgenturnen und Psychotherapie in der Gruppe. Die Drogenentzug in der Zuger Sennhütte ist hart aber hilfreich.

 

Es klingt wie der Lärm von dröhnenden Maschinen, aber wer ihm folgt landet nicht in einer Werkstatt, sondern in einem Wohnzimmer mit Cheminée, auslandender Polstergruppe und üppigem Gummibaum. «Wir hören Musik», erklären die Jungs. Ein Saukrach wabert da aus den Boxen.

 

Die Sucht, das Gift, hat sie hierher verschlagen. Zwar haben sie sich alle freiwillig für die Therapie entschlossen, doch die gruppendynamischen Prozesse zerren manchmal ganz schön an den Nerven. Wer sein Zimmer in der temporären Schicksalsgemeinschaft am Hang des Zugerbergs erst einmal bezogen hat, realisiert schnell: Die Sennhütte ist kein Ferienlager. Suchtbekämpfung ist Schwerstarbeit. Nur wer will, hält hier durch. «Es knallt schnell hier», bestätigt Christoph Haas, Leiter der Sennhütte, mit sanfter Stimme. Die psychische Dauerbelastung während 24 Stunden in einer Zehnergruppe sei eine Herausforderung. «Zum Ausrasten ist es», präzisiert Pete, 27, um sofort zu beteuern, dass er die Therapie durchziehen und clean bleiben wolle. Definitiv, jetzt.

 

Die Chancen stehen gut. Gemäss Statistik liegt die Erfolgsquote bei 67 Prozent, womit sie deutlich über dem Schnitt der von «infodrog schweizweit» erhobenen Daten liegt. Mehr als die Hälfte der Sennhütte-Bewohner schafft es, ihre Drogentherapie mit Erfolg abzuschliessen und die von der Institution definierten Ziele zu erreichen: in einer eigenen Wohnung zu leben, einer Erwerbsarbeit nachzugehen und gesellschaftlich integriert zu sein. Im Fachjargon heisst das: Erarbeitung grösstmöglicher Autonomie in allen Lebensbereichen ohne harte Drogen wie Kokain oder Heroin. Bemerkenswert ist auch der Anteil jener Ehemaligen, die eine Festanstellung haben und ihren Lebensunterhalt mittlerweile ohne bestreiten; er liegt bei 84 %. Doch der Weg dahin ist beschwerlich, hart. Und mühsam.

 

Fünfundfünfzig Kurven gilt es vom Kantonshauptstädtchen zu nehmen, vorbei an Luxuswillen, Kirschbaumplantagen, einem Nobelrestaurant und einer Bergkapelle. An trüben Herbsttagen liegt die Sennhütte knapp über der Nebelgrenze. Aber heute dümpelt ein nasser, grauer Tag vor sich hin. Trostlos ist die Stimmung draussen, dick die Luft drinnen. «Pass doch auf, Du Arsch!» schnauzt Frank aus der Küche und starrt Roberto an, der – direkt vom Hühnerstall kommend – die frisch gelegten Eier samt Stroh  neben die heisse Herdplatte legt. Er habe, rechtfertigt er sich, ja gefragt, wohin die Eier sollten, aber keine Antwort erhalten. «Und ich hab’s nicht gehört, weil hier der Ventilator läuft», keift Roberto. Er fuchtelt wild mit dem Handtuch und balanciert die Eier, zitternd vor Wut, zum Waschtrog.

 

Es sind die Bagatellen des Alltags, oft Nichtigkeiten, die hier für Zündstoff sorgen. Doch an denen wird die Realität erprobt, die nach dem Aufenthalt draussen wartet. Eine Mahlzeit zubereiten, eine Toilette putzen, einen Tisch decken – viele Süchtige müssen das erst (wieder) lernen. Immerhin: den körperlichen Entzug vom Heroin oder Kokain haben alle, die hier sind, hinter sich. Dieser, meint Nina, sei zwar auch Horror, aber nichts im Gegensatz zur Bewährungsprobe auf dem Berg. Die meisten Leute sind schon seit über acht Monaten da; mit einer Ausnahme, alles Schweizer.

- Susi, 22,  Coiffeuse, 4 Jahre lang süchtig, leidet unter Wahnvorstellungen, nimmt Psychopharmaka.
- Remo, 31, Automechaniker, Konsum ab 18, mehrmals straffällig, Vater eines fünfjährigen Sohnes.
- Frank, 35 Dachdecker, teilinvalid wegen Arbeitsunfall, nebst Drogen- Affinität zu Computerspiel-Sucht
- Nina, 21, Malerin, Konsum ab 15, verurteilt zu 640 Stunden gemeinnütziger Arbeit wegen qualifizierten Diebstahls.
- Sara, 23, KV, Prostitution im Jugendalter, Borderline-Syndrom, mehrere Selbstmordversuche.
- Miguel, 27, verurteilt wegen Mitgliedschaft in einem internationalen Drogenring, drei Jahre Gefängnis, Vater zweier Kinder.
- Pete, 27, Grafiker, Cannabis- und Ecstasykonsum ab 12, zweifacher Vater, ein gescheiterter Drogenentzug.
- François, 29, Korbflechter, Konsum ab 20, schwer sehbehindert, aufgewachsen in einer Adoptivfamilie.
- Arno, 34, Kunststofftechnologe, verurteilt wegen bewaffnetem Raubüberfall, Mitglied der anonymen Alkoholiker.
- Roberto, 48, Zolldeklarant, langjährige Letten- und Platzspitzerfahrung, mehrere abgebrochene Therapien.

 

Tagwache ist kurz vor sieben Uhr. Morgenturnen um zehn nach sieben, Frühstück um halb acht, Tagesbesprechung um acht, Arbeit in Haus- und Küchendienst, der Metallwerkstatt oder Schreinerei bis zwölf Uhr. Mittagessen um zwölf, Pause um drei Uhr, Aktivität bis fünf Uhr, Nachtessen um sechs. «Wer sich als erwachsener Mensch zu so einer Freiheitsbeschneidung entschliesst, muss hoch motiviert sein», sagt Leiter Christoph Haas, «sonst hält er das gar nicht aus.» Einmal pro Woche besucht jeder die Einzelpsychotherapie beim internen Psychologen, dreimal pro Woche findet die Psychotherapie für die Aufarbeitung spezifischer Themen in der Gruppe statt, wo auf dem Dachstock im Kreis sitzend eingangs jeder erzählt, wie es ihm geht. Nina ist im Stress, da kurz vor dem Austritt. Das Leben rolle auf sie zu, und sie wisse nicht, ob sie das packe. Sara mit dem weissen Verband am linken Arm, geht es schlecht, fühlt sich leer, grad so, als ob sie nie hätte geboren werden sollen. «Aber schneiden will ich mich diesmal nicht. Die Wunden vom letzten Mal sind ja noch frisch.»

 

Solidarität und Anpassung gelten als zentrale Elemente des Aufenthalts. Steht ein Besuch im Alpamare an und einer der Teilnehmer wird krank, bleibt die ganze Gruppe zu Hause.  «Das erhöht die Frustrationstoleranz», sagt Haas, der will, dass Konflikte ausgehalten und ausgetragen werden und sich nicht, wie es die Leute bis anhin kannten, durch Zuhilfenahme von Suchtmitteln in Luft auflösen. Nicht gleich ausrasten, wenn die Klopapierrolle oder die Mozarella für den Pizzateig fehlen, der Tank fürs Mofa leer ist oder der Computer im Aufenthaltsraum besetzt, was ziemlich oft der Fall ist, da sich zehn Leute zwei Geräte teilen. Merkt ein «Teamer» - so werden die Betreuer genannt - dass sich jemand langweilt oder ausserhalb der Pause aufs Zimmer verdrückt, wird  sofort interveniert. Heute, da Schnee bis auf 700 Meter angesagt ist, sollen endlich die letzten Karotten im Garten geerntet und jene Pflanzen im Keller versorgt werden, die nicht winterfest sind.  «Nicht wahr, Miguel?», mahnt Teamer Dani, «oder was stehst Du hier rum und quatschst?» In mit Dreck garnierten Stiefeln obendrein, wo doch Finkenpflicht im Hause herrscht. Apropos: Es ist der typische Soundtrack des Hauses: Das Schlurfen der zehn Paar Adiletten (die tragen hier alle) verrät, ob – je nach Kadenz – jemand voll Tatendrang ist oder völlig unmotiviert.

 

Die Eintrittsphase – sie beginnt mit der Anfertigung eines individuellen Namensschildes – ist am härtesten. Es gilt eine Kontaktsperre von drei Wochen. Keine Besuche, kein Ausgang, keine Telefonate. Danach bedarf es für jeden Aufenthalt ausserhalb des Hauses eines frühzeitig eingereichten, schriftlich begründeten Antrags mit sämtlichen Details: Wann? Warum? Wohin? Mit wem? Egal, ob es sich um ein Rendez-vous bei der Freundin, den Brunch mit der Mutter oder die Teilnahme am Babyschwimmen mit der kleinen Tochter handelt, alles muss bewilligt werden. Termine beim Zahnarzt oder Berufsberater werden im zentralen Computersystem registriert. «Und auch für Gerichtsverhandlungen kriegt man frei», bestätigt Arno, verurteilt wegen bewaffneter Raubüberfälle auf Denner-Filialen und Tankstellen. Er sei gereizt und etwas dünnhäutig momentan, darf heute Abend nicht ins Volleyballtraining, weil er im Ausgang ein Bier getrunken hat, worüber jetzt auch sein Bewährungshelfer in Kenntnis gesetzt wird. Reisst er sich nicht zusammen, ist das Sozialamt nicht mehr gewillt, den Tagessatz von 310 Franken zu zahlen. Und sonst? Der Fernseher darf abends nur für die Tageschau und Wetterprognosen eingeschaltet werden, und zweimal pro Woche ist eine DVD erlaubt. Doch auch hier muss man sich einig werden: «Der Schuh des Manitu»? «Asterix und  Obelix: Mission Cleopatra» oder doch «Spiel mir das Lied vom Tod?»

 

Das Refugium auf dem Berg ist trotz den rigiden Vorschriften und massiven Einschränkungen für viele Bewohner gleichzeitig der Ort, an dem sie – mitunter das erste Mal im Leben – Wertschätzung erfahren, Erfolgserlebnisse verbuchen und Selbstvertrauen gewinnen. Nicht selten kommt es darum vor, dass Klienten das Haus nach abgeschlossener Therapie gar nicht verlassen und gegen die verführerische aber eben auch riskante Freiheit eintauschen möchten. Auf Genesung hoffend, hausen viele im Verliess nicht nur ihrer ehemaligen Drogen- sondern auch Sehnsüchte und wünschen sich für die Zukunft, ganz banal, was  der Schweizer Durchschnitt sich wünscht: Eine Freundin, eine gemütliche Wohnung, einen regelmässigen Lohn, eigene Kinder.

 

Dass jede Regel ihren Sinn hat und nicht der Schikane dient, versucht die Hausleitung den Klienten klar zu machen, die sich beklagen: dass die Musik nur in Zimmerlautstärke erlaubt, das Taschengeld zu knapp bemessen ist. Skandal, dass man neuerdings am Morgen auch noch das Handy abgeben muss. Dass die gemeinsame Weihnachtsfeier am 24. Dezember für alle obligatorisch ist und der Silvester ohne einen Tropfen Alkohol gefeiert werden soll. Dabei  sind die Betreuer keine Unmenschen, bringen im Gegenteil viel Verständnis für die Situation der Klienten auf und sind durchaus zu  Kompromissen bereit. Nicht mehr jedes Fresspäckli muss beispielsweise der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden, aber nett ist es schon, wenn man an die anderen denkt. Remo kippt die Schokoladenkugeln unaufgefordert in die Naschschale; auch weil er auf keinen Fall zunehmen will. Zeitweise stand er fast täglich im Kraftraum des Kellers und stemmte Hanteln bis zum Limit, um zu vergessen, was alles war: Ein Selbstmordversuch im Geschwindigkeitsrausch mit dem schweren Motorrad, der Kampf um das Besuchsrecht seines Sohnes. Überhaupt: seine ganze missglückte Kindheit mit Eltern, die überfordert waren mit sich selbst und ihn, den hyperaktiven Sohn, sich selbst überliessen.

 

Hier oben, ganz anders, herrscht ein System ständiger gegenseitiger Rücksichtnahme und Rechenschaft. Kommst Du eine rauchen? Ach, Du warst schon. Was ist  denn mit dem Remo los? Hat sich die Finger verbrannt. Die Nina ist ja schlecht drauf. Logo, sie hat 38,2 Grad Fieber. Na wenn sie rauchen kann, wird es nicht so schlimm sein. Einer Erlösung kommt es gleich, wenn es eindunkelt, die Kulm der Rigi am Horizont langsam in der Dämmerung verschwindet, ein jeder sich auf sein Einzelzimmer zurückziehen kann und seine Ruhe hat. Endlich.

 

Wie in der Hausordnung festgehalten, läuft es nicht immer ab. «Wir arbeiten mit Rückfällen», sagt Haas und meint damit, dass es – trotz offizieller Nulltoleranz – vorkommt, dass jemand im Ausgang Drogen konsumiert. Die regelmässigen Urinproben würden die verbotene Substanz im Blut automatisch zutage fördern, aber die Bewohner melden den Konsum eigentlich immer von sich aus. Konsequenz: 48 Stunden in der Psychiatrischen Klinik im benachbarten Oberwil. Erst wenn der Fehlbare wieder nüchtern ist, darf er auf die Gruppe  zurück. Und die hat wiederum Anspruch, vom Betroffenen zu erfahren: Wann ist es passiert? Warum hattest Du «das Reissen»? Warum bist Du der Versuchung nicht widerstanden? Auch auf Alkohol werden die Bewohner nach jedem Ausgang getestet und müssen unter Aufsicht ins Röhrchen blasen. Die die Sanktionen - zwei Wochen Ausgangssperre – sind hart.

 

Wenn man bedenkt, wie viel Elend und Gewalt, wie viel Hoffnung und Angst, Enttäuschung, Frustration, persönliches Schicksal und familiäres Desaster hier unter einem Dach versammelt sind, überrascht es, dass überhaupt noch gelacht wird und wie oft: Wie bitte? Einen Absturz hast Du, Nina? Ach so, nur am Computer...Die Stimmung ist gut, fast unbeschwert an diesem vollends verregneten Novembernachmittag ohne einen einzigen Sonnenstrahl: Nina singt aus ihrem Zimmer, Sara erarbeitet ein Energiesparkonzept fürs Haus, Frank sortiert frisch gewaschene Putzlappen, François liest Zeitung, und Susi erstellt den Menu- und Einkaufsplan für die nächste Woche: Polenta mit Fleischvogel und Bohnen wäre mal was anderes. Aber ob das auch die anderen mögen?