«MEINE MUTTER INTERVENIERTE»
Die Innerschweiz vertraut auf das prüfungsfreie Verfahren, das nach der 6. Klasse einen entspannten Übertritt in die Folgeschule erlaubt. In über 95 % der Zuweisungen werden sich Lehrer, Eltern und Schüler einig.
Erinnern Sie sich an Ihren Übertritt von der Primarstufe in die nächst höhere Schule?
Sogar sehr gut, obwohl dies schon 35 Jahre zurückliegt. Ich schaffte den Übertritt nach der 5. Primarklasse in die Aargauer Bezirksschule nämlich nur knapp. Als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund – meine Eltern stammen aus Italien – und auch aufgrund meines Notenschnitts wäre ich eigentlich für die Sekundarschule prädestiniert gewesen. Aber meine Mutter intervenierte und meine damalige Primarlehrerin hatte den Mut, mich für die „Bez“ zu empfehlen; wie sich später zeigte, ein richtiger Entscheid. Denn ich wurde ein sehr guter Bezirksschüler und wechselte nach vier Jahren problemlos ins Gymnasium.
In der Innerschweiz treten Primarschüler ohne Prüfung in die Kantonsschulen und Gymnasien ein. Die Einigungsquote liegt bei über 95 %. Überrascht Sie das?
Nein. Diese Zahl ist ein Beweis, dass dieses System funktioniert und wirksam ist. Kommt hinzu, dass Eltern, Lehrpersonen und Jugendliche das prüfungsfreie System als entspannter und weniger hektisch empfinden, weil es prozessorientiert verläuft. Man darf aber nicht vergessen, dass auch dieses System seine Ungerechtigkeiten hat, die nie ganz eliminiert werden können. Ein Notenschnitt von 5,2 in einer bestimmten Gemeinde entspricht in einer anderen Gemeinde nur einer 5,0 und reicht unter Umständen bereits nicht mehr fürs Gymnasium.
Offenbar gelingt es den Primarlehrerinnen, Schüler und Eltern davon zu überzeugen, welche Schule die beste Anschlusslösung bietet.
Es geht nicht um ein Überzeugen, sondern um eine kongruente Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler. Dies stimmt mich positiv, weil es zeigt, dass die Lehrpersonen das Leistungspotential der Schüler realistisch einschätzen können und sich alle Akteure ihrer Verantwortung bewusst sind. Die Frage ist immer, welcher Aufwand betrieben wird, um eine Entscheidung herbeizuführen. Und da bin ich klar der Meinung, dass das Zentralschweizer Modell das ökonomisch sinnvollere und pädagogisch durchdachtere ist. Die Situation in Zürich wirkt auf mich sehr überhitzt. Denn die grossen Gewinner der Gymiprüfungen sind bekanntlich nicht die Schüler, sondern die Akteure der privaten Bildungsindustrie. Sie verdienen sich dank teilweise völlig überteuerter Nachhilfekurse eine goldene Nase. Ein Stück weit kommt dies einer staatlich tolerierten Entmündigung der Volksschule gleich, die es mancherorts offenbar nicht schafft, talentierte Kinder selber aufs Gymnasium vorzubereiten.
Angesichts der harmonischen Verhältnisse in Luzern oder Zug könnte der Kanton Zürich doch getrost auf die Gymiprüfungen verzichten, zumal diese bezüglich Leistungsstärke eines Schülers meist bestätigen, was man ohnehin schon weiss.
Ein direkter Vergleich ist schwierig. Denn im Kanton Zürich ist der Druck auf die Gymnasien höher als in der Zentralschweiz. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, dass bei einem Verzicht auf die Prüfung im Kanton Zürich ein ähnlich hoher Wert an übereinstimmenden Empfehlungen zustande kommen würde, wie dies bei uns der Fall ist. Vermutlich müsste nach einem Systemwechsel im Kanton Zürich eine lange Phase der Passung stattfinden.
Im Kanton Luzern befürchtete man, dass die Abschaffung der Gymiprüfung vor rund 20 Jahren zu einem unkontrollierten Zustrom an die Mittelschulen führen könnte. Trat dies ein?
Ein Zuwachs fand statt, aber kein unkontrollierter. Im Kanton Luzern stieg die Gymnasialquote von 11,2 % im Jahr 1999 auf 19,1 % im Jahre 2012. Wir hatten früher zu wenig Gymnasiasten und haben nun aufgeholt. Vor allem in ländlichen Gebieten, wo die Quote unterdurchschnittlich tief lag, gelang es, vermehrt weibliche Jugendliche ans Gymnasium heranzuführen.
Bei einem „soften“ Übertritt, hört man oft, seien sich die Jugendlichen der Ernst der Sache nicht bewusst. Eine Prüfung hingegen markiere eine Zäsur.
Ritualisierte Initiationsakte haben ihre Berechtigung. Ich glaube aber nicht, dass gymnasialer Vorbereitungsstress für die Entwicklung eines Zwölfjährigen förderlich ist. Ambitionierte Jugendliche – und diese wollen wir an den Gymnasien – lernen intrinsisch motiviert und brauchen keinen Prüfungsdruck. Unsere Gymnasiasten sind sich auch ohne Prüfung bewusst, dass sie an der Mittelschule kein Wohlfühlprogramm erwartet. Zudem ist der prüfungsfrei Wechsel nicht so soft, wie man meinen könnte. Er geht für viele Jugendlichen mit einem Schulortwechsel, längeren Anfahrtswegen und einer Probezeit einher.
Manche Eltern ziehen es vor, ihr Kind mit 12 oder 13 Jahren in die kleineren gemeindlichen Sekundarschule zu schicken, als in eine anonyme Schulfabrik mit über 1000 Schülerinnen und Schülern. Können Sie das nachvollziehen?
Sehr gut sogar. Denn die körperliche und seelische Verfassung muss berücksichtigt werden, wenn entschieden wird, welche Schule für ein Kind die beste ist. Gerade in der Pubertät geht eine riesige Schere auf, was der Entwicklungsstand von Jugendlichen betrifft. Die einen sind fast „überreif“ für eine Mittelschule und können es kaum erwarten, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Die anderen sind im gleichen Alter noch sehr fragil, verspielt oder unsicher und fühlen sich an einer grossen Kantonsschule trotz intellektuellen Kapazitäten nicht wohl. Wenn diese Rahmenbedingungen nicht stimmen, kann sich das sogar negativ auf die Leistung auswirken.
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Aldo Magno, 47, ist Leiter der Dienststelle Gymnasialbildung im Kanton Luzern. Vorher war er Rektor des Gymnasiums Immensee (SZ) und Direktor am Hochalpinen Institut Ftan (GR)