PUBLIKATION

Weltwoche
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

10.11.2005

JONGLAGE IM BANLIEU

 

Untrügliches Signal für die Ankunft in der Pariser Banlieue ist die Sprache.

 

Eine Anzeigentafel oder Durchsage via Lautsprecher braucht es nicht, um zu wissen, ob die Pariser Schnellbahn RER die Innenstadt Richtung Norden verlässt. Untrügliches Signal für die Ankunft in der Pariser Banlieue ist die Sprache.

 

Die Rede ist vom Französischen, oder besser gesagt, von der Sprache, die heute in den von Armut und Arbeitslosigkeit geprägten Vorstädten gesprochen wird. Sie wird von vielen Franzosen kaum mehr, von Touristen gar nicht verstanden. Jugendliche parlieren Patois (Mundart), Charabia (Kauderwelsch), Argot (Jargon) Adolang (Teenagerslang) oder Verlan (von envers). Letzteres bezeichnet  durch Umkehrung von Wortsilben kreierte Ausdrücke, die vor allem in Jugendcliquen, Rap- und Hip-Hop Bands verbreitet sind. Aus café wird féca, aus tabac batac, aus métro tromé.

 

Eltern, Lehrer und patrons sind zwar mittlerweile mit den gängigsten Ausdrücken vertraut («faire la teuf» für faire la fête, «laisse béton» für laisse tomber, «ziva» für vas-y! ) und wissen, dass mit den «meufs» die Frauen (femmes) und mit den «reuss» die Schwestern (soeurs) gemeint sind. Aber die multikulturellen Vorstadtpoeten fabrizierem gnadenlos schnell neue Wortsalven und widersetzen sich eisern der verbalen Anbiederung von aussen. Hat sich ein Idiom ausserhalb der Clique etabliert, verliert er seinen Rebellionstatus und wird eliminiert.

 

Je nach (gross)-elterlicher Herkunftsländern ist das Vorstadtvokabular spanisch-portugiesisch, antillisch-karibisch algerisch oder malisch eingefärbt, so dass sich der Jargon der Maghrebiner durchaus von jenem der Schwarzafrikaner unterscheidet. Ein «beurs» (Araber) aus Grenoble kennt Wörter, die dem gebürtigen Senegalesen aus Toulouse fremd sind und umgekehrt. Spricht ein junger Pariser von «kisdé», sagt ein Lyoner «dek», während der Marseillais auf «condé» beharrt, obschon alle drei vom Ärger mit der Polizei reden. Die Buchstaben der französischen Rap-Gruppe Suprême NTM wiederum stehen einerseits für «nique ta mère», das als Schimpfwort weit verbreitet ist. «Niquer», aus dem Arabischen abgeleitet, heisst vögeln. Heutet bedeutet der Ausdruck noch soviel wie «hau ab». Anderseits steht NTM auch für «le nord transmet le message», womit gemeint ist, dass badenmässig der Norden Paris’ den Ton angibt. Schliesslich lassen sich die Buchstaben NTM umdrehen in MTN, was lautsprachlich als «aime ta haine» (liebe deinen Hass) gelesen werden kann.

 

Arbeitslosigkeit, Sex, Gewalt und Drogen evozieren die häufigsten Verlan-Derivate. «C’est la lerga (für galère), j’en suis trop goutdé (für «dégoûté)» sagt der Dealer in Mathieu Kassovitz’ Vorstadt-Film «La haine» in schönstem Verlan. Sinngemäss: So ein Elend, ich bin angepisst. Voltaire hätte ihn verstanden. Denn die «jonglerie verbale» hat ihren Ursprung nicht, wie oft behauptet, bei sprachgestörten Halbwüchsigen aus desolaten «técis» (cités), sondern existierte schon im 17. Jahrhundert. Voltaire schuf sein  Pseudonym – durch Verdrehung der Silben - aus dem Namen seiner Heimatstadt Airvault.