PUBLIKATION

das Magazin

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

20.4.2006

BEIM STAATSFEIND N°1

 

Durch seine wütende Polemik gegen das politische «Auslaufmodell» Schweiz wurde Thomas Hirschhorn auf den Skandalkünstler reduziert. Warum eigentlich?

 

Am Abend, als sich in der Schweiz zur Gewissheit verdichtet, dass ein Künstler im Pariser Exil seine Heimat beschmutzt, ihre «intimsten Werte» in den Dreck gezogen hat, sitzt Thomas Hirschhorn in seiner Werkstatt, öffnet ein Bier, lehnt sich zurück und atmet blanke Zufriedenheit aus. Ein angenehmer, trockener Abendwind weht durchs offene Fenster, und von Ferne vernimmt man das Grollen der Stadtbahn RER. Hirschhorn blickt nach draussen ins Dunkle und sagt: «Enfin, voilà.»

 

Es ist ein festes, sperriges «enfin, voilà», das nicht Ausdruck einer Verschnaufpause oder künstlerischen Sinnkrise ist. Im Gegenteil: Die achtwöchige Dauerkritik auf seine Pariser Ausstellung «Swiss-Swiss Democrazy» und der darauf folgende diffuse «Polit-Skandal» haben den 48-jährigen Künstler gestärkt in seiner Mission: Kunst bewegt die Welt. «Mir kann nichts mehr passieren», hält er jetzt, siebzehn Monate später, fest.

 

Auf dem internationalen Markt ist der Davoser gefragter denn je. Sein Kurs auf dem weltweit führenden Kunstmarktportal «artnet» steigt und steigt, was seine Kritiker argwöhnisch beäugen. Platz 157 von 38 000 Lebend- und Totklassierten, vor Henry Moore, Keith Harring, Gustav Klimt, John Cage. Ein Blick auf Hirschhorns Agenda, die in Form diverser A4-Papiere an der Wand klebt, bestätigt: ausgebucht bis ins Jahr 2008. Die diesjährigen Biennalen von Sao Paolo und Sevilla erwarten ihn. München, Warschau, Boston, Maastricht, London, Chicago, New York, – man ist Fan vom Klebebandmaniak. Nur die Schweiz hat ein Problem mit ihm. Abgestempelt als Gewissensgigant und arroganter Sack mit grosser Klappe ist die Aversion gegenseitig. Er meidet die Schweiz. Die Schweiz meidet ihn.

 

Oder hat hierzulande jemand seine letzte öffentliche «Belagerung» gesehen, in der Pariser Banlieue Aubervilliers, einer kommunistisch regierten Gemeinde im berüchtigten 93. Bezirk? Hirschhorn holte zusammen mit einem Dutzend Jugendlichen die Originale der meistgefeierten Künstler der Moderne in den trostlosen Vorwort und präsentierte diese in einem eigens dafür konstruierten «Musée Précaire». Hirschhorn wurde von der dortigen Kunstgesellschaft um eine «kleine Ausstellung» gebeten, stellte aber sofort klar, dass er etwas anderes im Sinn hatte: Seine Leidenschaft für die Kunst mit seinen Nachbarn teilen. «Und wenn die nicht ins Museum gehen, bringe ich das Museum eben zu ihnen.»

 

Als er zum ersten Mal seine Idee formulierte, hiess es unisono: impossible! Warum sollten das Centre Pompidou und der Fonds national d’art contemporain seine wertvollsten Kunstschätze ausgerechnet einem Quartier aushändigen, das ständig wegen hoher Kriminalitäts- und Arbeitslosenquote Furore macht und später noch als brandschatzendes «Gesindel» in die Schlagzeilen geraten sollte? Doch Hirschhorn insistierte und argumentierte: Kunst sei Allgemeingut, es gelte die «non-exclusion». Und stellte eine Liste der geforderten Werke zusammen, die er in einem Sozialwohnblock zu präsentieren gedachte: Piet Mondrian, Kasimir Malevitch, Marcel Duchamp, Salvador Dali, Joseph Beuys, Fernand Léger, le Corbusier, Andy Warhol. Dann folgten monatelange, kräfteraubende Verhandlungen in Form hunderter Telefonate und seitenlanger Emails, die allein einen fetten Ordner füllen. Wobei auch gesagt sein muss, dass Hirschhorn – ganz Utop – den versicherungstechnischen Aspekt seines Unterfangens völlig unterschätzte.

 

Die aberwitzige Dimension des Projekts wird allerdings erst dann klar, wenn man bedenkt, dass Hirschhorn darauf bestand, dass die Jugendlichen selber die millionenteure Kunst im «Musée Précaire» aufhängen sollten. Angesteckt von der Verve des Künstlers, dieses Ding zu drehen, willigte die Institution schliesslich ein und lud die Jungs zu einem dreiwöchigen Kurs ein, wo sie lernten, wie Weltkunst transportiert, verpackt, gewartet und an die Wand genagelt wird. Um die Jugendlichen auch emotional in das événement einzustimmen, unternahm Hirschhorn mit der Truppe vorgängig zwei Kunstreisen. Per Flyer bot er sie zu den regelmässigen Sitzungen im Quartiertreff auf. Dass während des Aufbaus der Ausstellung ständig die «flics» partoullierten und prompt zwei einschlägig bekannte Jungs verhafteten, war ärgerlich, bremste aber niemanden im Enthusiasmus. Hirschhorn sprach nach dem Vorfall auf dem Kommissariat vor, bat um Nachsicht. Und nachdem einer Pariser Kuratorin während der Vernissage Autodach und -scheiben zertrümmert worden waren, sorgte er für ein überwachtes Parking. 

 

Hirschhorn verwandelte Aubervilliers in ein einmaliges Fest-, und Kunstgelände mit achtwöchiger Action. In den Schreibateliers, Debatten und Konferenzen lieferten sich namhafte Intellektuelle, halbwüchsige Nord- und Schwarzafrikaner, Muslime und Juden auf ramponierten Sitzgarnitouren leidenschaftliche Diskurse. Am Imbissstand empfingen Quartierfrauen die auswärtigen Besucher als selbstbewusste Gastgeberinnen, tischten Reis und Poulet, Couscous und Suppe auf.

 

In Frankreich kam kein Kritiker auf die Idee, hier wolle ein künstlerischer Gutmensch publicityträchtig seine soziale Ader ausleben. Frankreichs Medien und Ministerien waren begeistert vom Projekt. Die Institutionen unterstützten es mit 340 000 Euro. Intellektuelle, Künstler, Politiker, aber auch ganz normale Bürger aus der Innenstadt strömten zahlreich – und viele wohl zum ersten Mal – in den Vorort. Das «Musée Précaire» wurde als das verstanden, was es war: Ein Widerstand gegen die sozialökonomische Realität und den dort sonst vorherrschenden desillusionierten Alltagstrott.  Hirschhorn hat seine Kritiker Lügen gestraft: Kunst kann die Welt verändern.

 

Vielleicht liegt es an Hirschhorns Hang zum Undifferenzierten und Radikalen, an seiner Lust am Übertreiben und Überfordern, seiner Mischung aus Streitlust und Aufgeräumtheit, dass das Verhältnis zwischen ihm und der Schweiz neurotische Züge angenommen hat. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er hierzulande seit der Pro-Helvetia-Ausstellung in aller Munde ist und doch ein Unbekannter.

 

Er war ein unauffälliger, durchschnittlicher Schüler, ausser im Zeichnen. Da war er besser als alle anderen. Als Kind malte er wie verrückt und beteiligte sich an Malwettbewerben. Als Teenager äusserte er zum ersten Mal den Wunsch, Grafiker zu werden. Doch die Eltern – er Buchhalter, sie Hausfrau -  tendierten auf etwas Handfestes: eine vierjährige Schriftsetzerlehre in der Buchdruckerei Davos AG. Hirschhorn akzeptierte und bewarb sich nach dem Lehrabschluss um einen Platz im Vorkurs der Zürcher Kunstgewerbeschule.

 

Zum ersten Mal, mit 21 Jahren, kann er seinen Gestaltungswillen ausdrücken und realisiert, dass seine Begabung von anderen wahr- und ernstgenommen wird. Er besucht Ausstellungen von Andy Warhol und Alberto Giacometti, ist angefressen von der Schule, absorbiert und befreit zugleich. «Wir wurden in einer Art Frei-Gehege gehalten», erinnert er sich. Die Studenten wussten: Wenn sie rauskommen, fängt ein anderes Leben an. Denn Geld verdienen konnte man mit subversiven Kunstplakaten nicht, nur mit Werbung, und das war verpönt.

 

Hirschhorn verehrte das aus der 68er-Revolte entstandene und 1970 gegründete kommunistische Grafikerkollektiv «Grapus». Dessen Mitglied Alexander Jordan kam eines Tages von Paris nach Zürich gereist und stellte seine «sozial verantwortbare Grafik» der Grafikfachklasse vor. Grapus arbeitete für  die Kommunistische Partei Frankreichs und gestalte Plakate für experimentelle Theatergruppen und soziale Institutionen. Hirschhorn war begeistert, heuerte für ein Praktikum an und reiste nach Paris. Doch bei Grapus hielt er es nur einen halben Tag aus. Statt gestalten durfte er nur reinzeichnen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Aber der Stolz verbot es ihm, in die Schweiz zurückzukehren. Also blieb er dort – ohne Aufträge, Geld und festen Wohnsitz. Diese harte Zeit, glaubt er im Nachhinein, habe ihn geistig gestärkt, ebenso die Tatsache, dass er als Adoptivkind seine Wurzeln nicht kenne. «Mein Wesen ist mir biologisch fremd», sagt er, mehr fasziniert denn bedrückt. Dass er bis heute seine leiblichen Eltern nicht kenne, gebe ihm die Möglichkeit, T.H. von Grund auf zu «erfinden».

 

Das begann Ende der achtziger Jahre, als sich noch kein Mensch für Hirschhorns Arbeit interessierte. Hirschhorn stellte in Paris unscheinbare Kartonschilder auf Kühlerhauben, Baustellen und in Treppenhäusern aus oder klemmte sie unter die Scheibenwischer geparkter Autos. Die stillen, von furiosem Eigensinn geprägten Interventionen, die er als no-name schuf, zeigen klar: Ihm ging es nie um Provokation oder den «Kunst-Skandal», sondern um eine persönliche, ernste und sehr hartnäckige Positionierung seiner selbst in der Welt.

 

Im Niemandsland vom Norden Irlands steckte er die Wegweiser seines Lebens (Arbeit, Kunst, Macht, Engagement, Realität) in Form von Kartontafeln in die Wiese. Am Hafen von St. Tropez gesellte er  seine kruden Holzschnitte trotzig neben die Verkaufsstände gefälliger Aquarellbilder. Am Feldrand des Flughafens Hannover baute er eine Plastikhütte mit überdimensionalen, nachts erleuchteten Aluminiumtränen. In Brüssel säumte er das Trottoir mit einem Defilé aus 99 prall gefüllten Plastiksäcken. Am Ufer eines kleinen Tümpels in den Pyrenäen konstruierte er eine Obdachlosenhütte für einen Hund.

 

Immer wieder machte er aus der Not eine Tugend und spielte mit der Nichtbeachtung seiner Arbeit. Etwa wenn er bei den Eingängen der Grossbanken am Zürcher Paradeplatz seine minimalistisch gestalteten «Lay-outs» im Sinne des Wortes auslegte, damit diese von der viel beschäftigten Kundschaft schnöde ignoriert wurden. In Video «Jemand kümmert sich um meine Arbeit» dokumentiert er selbstironisch, wie drei demotivierte Pariser Müllmänner lustlos eine vom ihm aufs Trottoir deponierte Kartonassemblage entsorgen, ganz nach dem Motto: Entsorgung ist auch eine Art von Teilnahme. Oder, wie er sagt: «Kunst existiert auch, wenn niemand hinschaut.» Im Nachhinein gibt es viele Galeristen und Kuratoren, welche die «Entdeckung Hirschhorns» für sich proklamieren. Der Betroffene reagiert allergisch. «Ein Künstler wird von niemandem entdeckt. Galeristen und Kuratoren fangen nur an, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Künstler aus einem bestimmten Grund zu interessieren.»

 

Warum also diese Faszination für Hirschhorn? Es liege an der Authentizität, mit der er sich bedingungslos einbringe, sich gleichsam seiner Arbeit ausliefere, sagt Eleonora Holthoff von der Berliner Galerie Arndt & Partner, die mit Hirschhorn seit 1995 zusammenarbeitet. Als grosses Privileg empfinde sie es, einen so «energetischen Künstler» unter Vertrag zu haben, seine Position zu vermitteln, für ihn zu fechten. Kunstmäzen Thomas W. Bechtler wiederum lobt Hirschhorns haltlosen Assoziationsreichtum und «die überbordende Energie, die von seinen monumentalen Installationen ausgeht».

 

«Energie Ja. Qualität nein», lautet denn auch seine Devise. Was allerdings nur bedingt stimmt: Wer seine Kompositionen einer genauen Prüfung unterzieht, realisiert: Jeder Klebestreifen und jeder Nagel ist mit Bedacht montiert, jede Fotokopie hat ihr Plätzchen. Hirschhorn ist ein Meister des Minuziösen. Ja, ein Pedant, der seine Mitarbeiter (er beschäftigt mittlerweile ein 4-köpfiges Team) präzise instruiert, wo wieviel Meter Holz und Folie hingehört, um nachher zu sagen: «Das Material ist nicht wichtig. Es geht um den Inhalt.»

 

Und der ist, soviel ist klar, bei Hirschhorn nicht immer sofort fassbar. Ein Beispiel: Als die Bewohner Bagdads nach der Einnahme ihrer Stadt durch die US-Streitkräfte im Jahre 2003 das Nationalmuseum stürmten, kam es zum Chaos. Die Schätze einer mehrtausendjährigen Geschichte wurden genau so geraubt wie Kühlschränke und Plastikstühle. Im Werk «chalet lost history», das Hirschhorn kurz darauf in Paris zeigte, gab er diesem kollektiven Ausdruck von hierarchielosen und moralfreien Automatismen ein Gesicht und konfrontierte das Erbe der Menschheit mit den trivialsten Alltagsgegenständen. Der Kühlschrank und die Statue, das Schmuckstück und der Plastikstuhl erlangten durch ihr Schicksal der Plünderung und Zerstörung Gleichwertigkeit. Die Karton-Universen mit kiloweise beschriftetem Papier lässt beim Betrachter freilich die immer gleiche Frage aufkommen: Muss man das alles lesen? Hirschhorn schüttelt den Kopf: «Niemand muss sich für mich Wissen aneignen.»

 

Als ihn Okwui Enwezor im Jahre 2011 an die Documenta einlädt, stellt Hirschhorn nicht auf dem offiziellen Ausstellungsgelände, sondern inmitten grauer Wohnsilos der Ausländersiedlung Friedrich-Wöhler aus. Während das Gros der Aussteller kurz vor Eröffnung anreiste, war Hirschhorn schon zwei Monate vorher in Kassel präsent und blieb insgesamt sechs Monate lang dort. Dies sagt zwar nichts über die künstlerische Qualität seines dort errichteten Bataille-Monuments aus, doch etwas über die Ernsthaftigkeit und Seriosität, mit der er ans Werk geht. Hirschhorns Engagement und Leidenschaft, sein selbstmörderischer Eifer ist immer auch Teil des Projekts und charakterisiert seinen offenen Kunstbegriff. «Bin ich fähig, mit meiner Arbeit Begegnungen zu schaffen? Bin ich fähig, einen Dialog zwischen Werk und Besucher zu etablieren?» Das lässt sein Diktum, wonach er sein Publikum liebt, glaubhaft erscheinen.

 

Kassel ist wieder Hirschhorn pur: Neben der Denkmalpersiflage für den von ihm verehrten französischen Philosophen Georges Bataille (1897-1962) stand eine Bibliothek, ein Fernsehstudio und ein Imbissstand. Die zumeist türkischen Jungendlichen aus dem Quartier arbeiteten am Aufbau (Hirschhorn: «ein totaler Murks») mit und betreuten die Installation über die gesamte Ausstellungsdauer hinweg. Natürlich kam es auch hier zu Zwischenfällen: Die vier Autos, mit denen die Austellungsbesucher vom Documentagelände in die Wöhler-Siedlung gefahren wurden, gaben diverse Male den Geist auf und von den im Kunstwerk integrierten Pornokassetten verblieben nach vier Tagen nur noch die leeren Hüllen. Zu guter Letzt wurden Hirschhorn auch noch Videokamera, Fotoapparat und Laptop geklaut. «Ärgerlich, aber kein Grund zur Panik», meint er versöhnlich, zumal das Diebesgut nach einem Machtwort des rechtmässigen Besitzers nach drei Tagen wieder anstandslos ausgehändigt wurde.

 

Da begab sich nicht einer, weil es gerade «in» ist, in die Niederungen einer sozial unterprivilegierten Schicht, sondern weil er überzeugt ist: Kunst kann an gesellschaftlichen Hierarchien rütteln, diese bestensfalls sogar aufheben. Immer geht es ihm um die Anschauung der Welt als Ganzes, darum, was man auch gerne «Weltanschauung» nennt. Aber weil der Begriff heute etwas veraltet klingt, wirkt der Künstler mit seinen Parolen («Kunst widersteht», «Kunst greift an», «Kunst entsteht aus Empörung») ein bisschen, als wäre er aus der Zeit gefallen.

 

Im öffentlichen Raum herrschen eben andere Gesetze als im Museum, und im Unkontrollierbaren und Unberechenbaren liegt für Hirschhorn der Reiz. Sein Monument für Gilles Deleuze, das er im Jahr 2000 in Avignon errichtete, musste wegen Vandalen vorzeitig abgebrochen werden. Wenn man dann einwirft, dass die Aktion also gescheitert sei, vertieft sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen des Künstlers, und sein Blick wird beinahe starr vor Empörung: «Kunst kann nie scheitern. Die Kraft der Kunst, ihr Gelingen und ihr Erfolg, liegt im Willen, die vom Künstler ausgeht, und nicht im Resultat.»

 

Er kritisiert die Unterwanderung aller Lebensbereiche durch die Ökonomie und überführt die Begierden des Kapitalismus in einen Zustand kreativer Anarchie. Gleichwohl präzisiert er: «Ich mache keine politische Kunst.» Dem Entscheid, Künstler zu werden, liege aber sehr wohl eine politische Haltung zu Grunde. Dass er trotz Kapitalismuskritik selber einen Mercedes fährt – einen uralten freilich, ohne Stern, dafür mit viel Rost und (logisch!) Klebeband versehenen –  und eine Vorliebe für nicht ganz billige Kenzo-Anzüge hat, trägt dem Künstler natürlich den Vorwurf der Inkonsequenz ein. Es stört ihn nicht. Zudem zeugt Hirschhorns Bude, die direkt über dem Atelier liegt, nicht von übersteigertem Designwahn.

 

Thomas Hirschhorn lebt bescheiden, ja spartanisch. Ein altes, dunkelbraunes Sofa steht da, ein klappriges Nachttischlämpchen, ein Tisch aus Sperrholz und ein kaputter Ledersessel. Hosen und Hemden hängen an einer losen Kleiderstange oder sind in Plastiksäcken verstaut. Geschlafen wird auf einer Matratze mit Holzrahmen, abgewaschen von Hand mit Blick auf einen unsäglichen Sexkalender. Da verweigert sich jemand der Behaglichkeit. «Wohnen ist Nebensache», sagt Hirschhorn knapp, marschiert beschwingt zum Kühlschrank und zeigt auf ein Foto des streitbaren, 1984 an Aids verstorbenen Philosophen Michel Foucault, das da klebt. Ein Überbleibsel aus der Aktion «24 heures Foucault», die der Künstler unlängst im Palais de Tokyo in Paris lancierte. 

 

Man erinnert sich: Als Hirschhorn 2001 von der Zürcher Kunstgesellschaft den Preis für junge Schweizer Kunst erhält (er ist da 44 Jahre alt), revanchiert er sich mit seiner «Wirtschaftslandschaft Davos». Darin zeigte er seine Heimat als von Krawall gebeutelte Hochsicherheitszone. Anlass dazu gab seine Mutter, die ihm gestand, sie würde aus Angst während des WEF's die Haustür abschliessen. Das tat sie sonst nie. Das WEF war für ihn ein willkommener Anlass, um eine Verbindung zwischen seinem Davos, Kirchners Davos und dem Davos der Wirtschaftselite zu schaffen. «Global village» war aber auch eine handfeste Kritik an  der Schweiz, die den Globalisierungsgegnern den Weg ins Dorf nicht bloss erschwerte, sondern regelrecht versperrte. So eindeutig seine Kritik daherkam, zum Skandal gereichte es dem Werk nicht. Im Gegenteil: Ausgestellt im Baselitz-Saal des Zürcher Kunsthaus, gab es Lob von allen Seiten. Dennoch bestand nicht die Gefahr, dass Hirschhorn die Ehrung überschätzte. «Kein Künstler», sagt er, «braucht einen Preis. Meist ist er wichtiger für diejenigen, die ihn vergeben.»

 

Ungeniert widersetzt sich Hirschhorn der Erwartung, Kunst als etwas Hehres und Elitäres zu sehen. Das dokumentierte er mit den «Altären», die er u. a. für Otto Freundlich, Raymond Carver und Ingeborg Bachmann schuf. Das dokumentierte er auch mit seinen «Kiosken», die er 1999 im Vestibül des Hirnforschungsinstituts der Universität Irchel aufstellte. Die Protagonisten, denen er die Kioske widmete, (Robert Walser, Emanuel Bove, Meret Oppenheim) waren ihm Vorbild und Vorwand zugleich, den etablierten Akademikerseelen zur Abwechslung einmal geistige Nahrung von Aussenseitern und Gestrandeten vorzulegen. Doch das kam nicht gut an. Ein Professor für Neuroinformatik meinte, er müsse sich jedes Mal «für das Ding in der Eingangshalle» entschuldigen. «Was soll ich sagen, wenn Leute in unser Institut kommen und fragen, was soll das?»

 

Dabei gebe es kaum einen Künstler, lobt Galeristin Susanna Kulli, der so klar und deutlich über seine Arbeit spreche wie Thomas Hirschhorn. Im Vorfeld zu einer Ausstellung schreibe er ihr immer einen Brief, worin er genau erkläre, was er zu tun gedenke, mit welchem Material er welche Räume gestalte und warum er überhaupt die Ausstellung machen wolle. Dazu Hirschhorn: «Ich verstehe es als eine Verpflichtung, über meine Arbeit zu reden. Es ist, wie wenn meine Mutter mich fragen würde, was ich mache; dann versuche ich, ihr das zu erklären.» Zwischen der Vorbereitung und der Eröffnung einer Ausstellung formuliert er Dutzende von Emails mit persönlichen Botschaften und orientiert über den Stand der Dinge. Seine Galeristen aus London, New York, Paris und Berlin geraten allesamt ins Schwärmen, wenn sie von der Zusammenarbeit erzählen: Hochprofessionell und präzise, aber auch kompromisslos und ungeduldig. Der Umgang, heisst es, sei stets von Freundlichkeit, Gesprächsbereitschaft und Grosszügigkeit geprägt.

 

Eine geradezu familiäre Atmosphäre herrscht im Atelier an der Rue Henri Murger in Aubervilliers, wo Hirschhorn seit fünf Jahren wohnt und arbeitet. Wenn die Jungs aus der Cité nicht gerade ihre Mofamotoren auf Volltouren dröhnen lassen, ist das Schlagen, Boren und Hämmern aus der Werkstatt bis nach draussen zu hören. Im Sommer, bei offenem Fenster, dringt Musik aus der Werkstatt. Vier, fünf, bei Hochbetrieb bis zu zehn Leute arbeiten bei der Produktion in der 700 Quadratmeter grossen Halle jeweils mit und dies, so hat man den Eindruck, bei bester Laune. Morgens um zehn Uhr trifft man sich zum Kaffee, bespricht den Tagesablauf und legt dann los bis ein Uhr. Nach der einstündigen Mittagspause im Bistro nebenan ist Non-Stopp-Betrieb bis sechs Uhr angesagt. «Wir sind Angestellte und Freunde zugleich», sagt Romain, ein langjähriger Mitarbeiter, und witzelt: «Aber ohne Geld läuft gar nichts.»

 

Richtig ist, dass Hirschhorn darauf besteht, alle seine Assistenten mit einem anständigen Stundenlohn zu entschädigen, weil er es ablehnt, «Kunst als Fronarbeit» zu sehen. Die Arbeitswut des Chefs sei ansteckend, sagt Christian. «Manchmal muss man ihn bremsen.» Bremsen? Da verwirft der Künstler  die Hände und erinnert an seinen Lieblinsphilosophen Georges Bataille, dessen Aufsatz «La Notion de dépense» (der Begriff der Verausgabung), er sich einverleibt hat. «Ich versuche, meine Arbeit mit meiner ganzen Kraft, meinem ganzen Können, meinem ganzen Willen zu machen. Wenn ich nicht mit hundert Prozent dabei bin, hat es keinen Sinn.» Die Entscheidung, Kunst zu machen, heisst für ihn, frei zu sein. 

 

Unzufrieden mit den aufgezwungenen Definitionen eines ausschliesslich monetär getriebenen Weltsystems macht Thomas Hirschhorn sich das kommunikative Potenzial des Denkens zu nutze und leistet sich – Skandal! Skandal! – eine eigene Meinung. «Ich bin nicht einverstanden damit, wie es läuft.» sagt er oft. Oder: «Das akzeptiere ich nicht.» Die Idee hinter «Swiss-Swiss Democracy»  war, dass Demokratie nicht per se unhinterfragt bleiben darf. Die Wahl Christoph Blochers in den Bundesrat lässt Hirschhorn an der inneren Richtigkeit von Mehrheitsentscheiden zweifeln. Es gelte doch, sagt er, solcher Protest nicht nur zuzulassen, sondern vielmehr bewusst zu begrüssen. Was passiert in einem Staat, der Angst vor Reflexion hat? Hirschhorn hat mit seiner Ausstellung eine politische Reaktion der kindischen Art provoziert. Dass die Eidgenössischen Räte Hirschhorns Fragestellung zum Anlass für eine finanzpolitische Strafaktion nahmen, offenbart doch im Wesentlichen diejenige Haltung, die der Künstler mit seiner Installation anprangert.

 

Hirschhorn ist ein Besessener, ein Zugpferd, ein Kraftwerk in eigener Sache. Er hat kein Hobby, keine Familie.  Er geht nicht aus, macht keine Ferien, hat weder Zeit zum einkaufen noch zum kochen. Er liest Magazine mit Titeln wie «bizarr» und «shok» und sucht darin nach abgerissenen Beinen, zerfetzten Armen, Brüsten, Vaginas, Tumoren, Leichenbergen, Verstümmelten und Massengräbern. Die Papierschnipsel, die hier zu Tausenden auf dem Boden liegen oder je nach Kategorie («soldats», «blessés», «prisonniers», «revoltes», «emeutes», «morts») in Kartonschachteln lagern, werden zu Kollagen verarbeitet. Er grinst: «Ce n’est pas les photos qui honent, c’est la réalité qui honte.» Was ihn beschäme, seien nicht die Photos, sondern die Tatsache, dass das menschliche Zusammensein solche Abartigkeiten hervorbringe. Die Realität als «poubelle». Er klebt sie wieder zusammen, mit Leim und viel Liebe.

 

Sicher: auf den ersten Blick sind diese Collagen schlimm anzusehen. Auch auf den zweiten Blick entfalten sie eine verstörende Ästhetik. Und wer hat schon Zeit für einen dritten? Thomas Hirschhorn will keine Harmoniegefühle wecken, nicht Komfort ausbreiten, nicht Trost und Erbauung spenden. Er will sein Staunen gegenüber menschlichem Handeln zum Ausdruck bringen. Will zusammenbringen, was nicht zusammengehört und Metaphern schaffen für den aktuellen Zustand der Welt: Schmollmund mit Kalaschnikow, vor Blut triefender Wal mit Champagner nippendem Topmodel. Von der Betrachterin forderte er eine persönliche Stellungnahme ein, und es interessiert ihn, wie die lautet.

 

Stundenlang unterhielt er sich mit dem Publikum über Terrorbekämpfung und Selbstmordattentäter, als die New Yorker Gallery Barbara Gladstone im Februar dieses Jahres seine Ausstellung «Superficial Engagement» eröffnete. Zum Beispiel sei es eine Tatsache, dass neuerdings auch in  Demokratien gefoltert werde. «Diese Entwicklung kann man doch  thematisieren und visualisieren», meint in scharfem Ton und fragt, wie es denn um die Qualität unserer sich fortschrittlich wähnenden Gesellschaft bestellt sein mag, die sich über einmalig in der Tagespresse abgedruckte Folterbilder wohl entsetze und enerviere, dann aber - bitte schön - damit in Ruhe gelassen werden möchte.  In New York wurden Hirschhorns Denkanstösse vom Publikum verstanden und die Haltung der Zuschauer wandelte sich von einer ersten, vehementen Ablehnung in Interesse und Akzeptanz.

 

Bis vor zehn Jahren verdiente Thomas Hirschhorn seinen Lebensunterhalt als Zügelmann und Altenpfleger. Das ist heute nicht mehr der Fall. Arbeiten auf Papier von Thomas Hirschhorn kosten zwischen 6000 und 10 000 Euro. Mittelgrosse Skulpturen sind ab 35 000 bis 120 000 Euro zu haben, Raum füllende Werke ab 150 000 bis 250 000 Euro.

 

Hinter den apokalyptischen Verrissen Ton angebender (Kunst)-Kritiker entdeckt man beim Thema Hirschhorn mitunter einen Groll, der sich in den Rezensionen in Überheblichkeit und persönlichen Angriffen entlädt. Thomas Hirschhorn hält dagegen. «Missverständnisse und Fehlinterpretationen gibt es immer», sagt er und jede Spur von Lässigkeit verschwindet aus  seiner Haltung. Das Gesicht verrät Einsamkeit, aber auch Triumph und Sicherheit, wenn er sagt: «Wichtig ist, dass man selber weiss, was man will.»


Thomas Hirschhorn spricht am 6. Mai um 12.30 h im Cabaret Voltaire in Zürich im Rahmen des Symposiums Merzbau über seine Arbeit «Musée Précaire Albinet»