PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Howard Pyle (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

4.10.2010

UNVERGESSLICH BLEIBT DER STRESS

 

Wenn der Aufwand, den Eltern heutzutage für Kindergeburtstage betreiben, ein Indiz dafür ist, wie viel wert ihnen die Kleinen sind, dann lieben viele Eltern ihre Kinder tatsächlich über alles.

 

Nicht einfach nur lustig und fröhlich, ausgelassen und heiter soll der Kindergeburtstag sein, sondern vor allem unvergesslich. Es ist das Adjektiv, das im Zusammenhang von grossangelegten Kindergeburtstagspartys mit Abstand am häufigsten verwendet wird. Mit diesem Imperativ können Eltern offenbar am ehesten von der Notwendigkeit einer an Spezialisten delegierten Party überzeugt werden: «Gönnen Sie Ihrem Kind einen unvergesslichen und Ihnen selber einen stressfreien Geburtstag!»

 

Wie auch immer das jährliche Erinnern an die Geburt des eigenen Kindes zum Stressfaktor werden konnte – fest steht: Professionelle Geburtstagsplaner schiessen in der Schweiz wie Pilze aus dem Boden und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Kostenpunkt für die Eltern: zwischen 300 und 500 Franken. Schliesslich möchte man mithalten können, wenn die Kinder in Hüpfburgen, Rodelbahnen, Trampolinanlagen, Kletter- und Bowlingzentren eingeladen werden. Nur mit einem Marmorkuchen und ein paar Freiluftspielen lässt sich heutzutage kein Staat mehr machen. Und die Kinderparty bei Mc-Donald's mit Chicken Nuggets und Pommes frites – es hat sich mittlerweile herumgesprochen – ist nun wirklich etwas für die Phantasielosen.


In Volketswil bietet ein Indoor-Freizeitpark Partygästen einen Flug in einem Simulations-Space-Shuttle an. Der Flughafen Zürich trumpft mit einer Erlebnisrundfahrt auf, bei der Start und Landung eines Flugzeugs aus nächster Nähe beobachtet werden. Im Wasserpark Alpamare rutschen Geburtstagsgesellschaften auf der 260 Meter langen Balla-Balla-Bahn, im Technorama stellen Geburtstagsgäste im Küchenlabor Desserts aus Marshmallows oder Schokoladenglace her, und im Connyland steigen Flipperpartys mit anschliessendem Delphinestreicheln. Geradezu bescheiden wirkt da im Gegenzug das Angebot der Migros, die ebenfalls auf den Zug aufgesprungen ist und Pauschalpartys anbietet, bei denen während eineinhalb Stunden Bewegungsspiele gemacht, Kochmützen bemalt und Pizzas gebacken werden. Bei Coop können Kinderfeste im Gegenwert von 15 000 Supercard-Punkten gebucht werden. Dies alles findet statt unter der Anleitung von professionell geschulten Animatorinnen, die das Zeichen geben, wann der erste Ballon aufgeblasen, die Torte angeschnitten und «Happy Birthday» gesungen wird. Und als wäre dies des Guten nicht bereits genug, erhält gemäss einer aktuellen Unsitte nicht nur das Geburtstagskind ein Geschenk, sondern es wird allen geladenen Gästen zum Abschied auch noch ein Sack mit Süssigkeiten in die Hände gedrückt.


In Gange ist ein regelrechter Wettbewerb, bei dem es offenbar darum geht, einander gegenseitig zu überbieten. Es sind nicht wenige Eltern, die dem Geburtstag ihrer Kinder deshalb mehr verkrampft denn freudig entgegenblicken und sich schon Monate im Voraus hintersinnen, wie der Tag gebührend gefeiert werden kann. Wie gross der Bedarf nach sachkundiger Beratung unter Eltern ist, illustriert auch die Unzahl von Ratgeber-Büchern, die auf dem Markt erhältlich sind. Das Motto ist auch hier klar: je aufwendiger die Vorbereitungen, je umständlicher das Programm, desto besser die Stimmung. Detailliert geben über siebzig zurzeit verfügbare deutschsprachige Titel zum Thema Kinderparty Auskunft darüber, wie Tische dekoriert, Girlanden gehängt, Kuchen gebacken, Servietten gefaltet, Gesichter geschminkt und Spiele gespielt werden sollen, damit es garantiert lustig wird. Dazu passt, dass kaum ein Kind seine Einladung – mit den dazugehörigen, altersbedingten Fehlern – selbst textet und gestaltet; das übernehmen die Eltern am Computer.

 

Real ist das Beispiel jenes Familienvaters, der sich als Event den Besuch des Tierparks Arth-Goldau im Kanton Schwyz ausdachte, inklusive Führung mit einem Ranger und Picknick beim Bärengehege. Eigentlich wäre die Anfahrt mit dem Familienauto geplant gewesen, doch der Sohn verteilte im Schulhaus so viele Einladungen, dass am Ende zwölf Kinder zusammenkamen, deren Transport nur mit einem Minibus zu bewerkstelligen war. In der näheren Umgebung wurde der Vater nicht fündig, also fuhr er bereits am Vorabend der Party Richtung Gotthard, wo ein entsprechendes Fahrzeug zu mieten war. Zu Hause angekommen, mussten mit Hilfe der Nachbarschaft noch zwölf Kindersitze organisiert werden. Von elf Uhr morgens bis abends um sechs dauerte die Veranstaltung. Zwei Kindern wurde es im Auto schlecht, und drei gerieten sich auf dem Rücksitz in die Haare. Er sei, so der Familienvater, am Abend mit den Kräften am Ende gewesen und heilfroh, dass das nächste Fest erst wieder in 365 Tagen anstand.


Die professionellen Anbieter machen sich zwei Umstände zunutze: einerseits die mitunter prekären Wohnverhältnisse von weniger betuchten Familien in kleinen Mietwohnungen, die es gar nicht erlauben, ein Dutzend Kinder zu Hause zu verköstigen, und anderseits die Zeitnot finanzkräftiger, beruflich stark engagierter Eltern. Letztere bevorzugen es oftmals, für das Fest ihres Kindes 300 Franken für einen betreuten Nachmittag aufzuwerfen, als während dieser Zeit im Büro zu fehlen. Speziell an diese Zielgruppe richten sich eher intellektuell angehauchte, unter dem Prädikat «pädagogisch wertvoll» gepriesene Angebote, wie jene der naturhistorischen Museen, die Geburtstagsfeste in Dinosaurier-, oder Indianerworkshops einbinden.

 

Im Partytempel Babaluga in Bülach, dem umtriebigsten Veranstalter, findet nach Eingang der Terminreservation ein vorgängiges «Beratungsgespräch» mit den Eltern statt, bei dem der Ablauf der Party detailliert besprochen und festgelegt wird, ob der Schwerpunkt eher auf Basteln, Singen oder Tanzen liegen soll. Für 200 bis 300 Franken ist ein Standardfest zu haben. Kommen noch extern gebuchte Clowns oder Zauberer dazu, so Chefin Sheila Stapleton, sei man schnell bei 1000 Franken. Die teuerste Party im Gegenwert von 2000 Franken habe ein fünfjähriger Knabe geschmissen, erinnert sich die Organisatorin. Gewürzt war das Fest mit diversen Showeinlagen. Zum Dessert gab's eine mit Marzipan-Ferraris dekorierte, dreistöckige Geburtstagstorte. Weniger gutbetuchte Eltern, so Stapleton, würden gezielt auf die Feste hinsparen oder bei Bedarf sogar Onkel und Tanten um Mitfinanzierung bitten.


Es sind Feste, die von der ersten gezündeten Tischbombe bis zur letzten ausgeblasenen Geburtstagskerze durchkalkuliert sind, die ebenso unpersönlich wie hektisch wirken, so dass einem die derart Abgefeierten beinahe leidtun. Denn eines ist gewiss: Mit der Inanspruchnahme externer Party-Angebote entledigen sich die Eltern zwar des – eigenen und fremden – Erwartungsdrucks. Bei vielen Kindern jedoch übertrifft die Erschöpfung nach solchen Veranstaltungen die Begeisterung. Zudem hat sich ein regelmässiger Partygast spätestens im Alter von zehn Jahren meist derart durch das ganze Angebot von Indoor-Softplay-Anlagen gefeiert, dass er sich früher oder später nach einem gänzlich unaufgeregten Geburtstag sehnen dürfte; etwa in Form einer Velotour ins Grüne mit dem besten Freund.

 

Interview mit Prof. Jürg Frick, Psychologe, Autor, Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich.

 

Herr Frick, wie haben Sie als Kind Geburtstag gefeiert?
Soweit ich das in Erinnerung habe, ganz unspektakulär. Es gab Kuchen, zwei, drei Geschenke, man hat ein Lied gesungen und gratuliert. Am Tisch sassen meine Eltern und meine ältere Schwester. Ich habe mich, wie die meisten Kinder, immer auf diesen Tag gefreut.

 

Kindergeburtstage sind für viele Eltern mittlerweile zu einer Belastung geworden. Wie konnte es so weit kommen?
Dafür gibt es viele Gründe. Einerseits sind die Erwartungen bei Eltern und Kindern sehr hoch, anderseits die Angebote im Bereich Kinderanimation in den letzten Jahren enorm gewachsen, so dass man glaubt, es sei wichtig, diese zu nutzen. In meinen Veranstaltungen und Seminarien stelle ich fest, dass viele Eltern völlig verunsichert sind, wenn es um die Frage geht, was Kinder eigentlich brauchen und was nicht. Es besteht ein grosser Mangel an Wissen, was für die kindliche Entwicklung relevant und förderlich ist.

 

Indoor-Softplay-Anlagen gehören nicht dazu?
Nein. Wichtig wären vielmehr eine verlässliche Bindung, Zeit und Ermutigung. Aber weil es nicht immer so einfach ist, dies einem Kind zu geben, weichen viele Eltern auf käufliche Angebote aus und denken, das wäre ein adäquater Ersatz. In der Wohlstands- und Warengesellschaft wird Kindern zu vieles auf dem Silbertablett serviert. Eigeninitiative, die Kindern angeboren ist, wird auf diese Weise abgewürgt. Das Kind wird so nur noch zum Konsumenten. Es geht hier um eine Schulung der Passivität, bei der eine problematische Grundhaltung kultiviert wird: Andere Personen organisieren und ermöglichen «fun», ich muss das nicht selber tun. Allerdings ist das Outsourcing eine generelle Zeiterscheinung. Insofern erstaunt es nicht, dass nun auch noch Kinderfeste delegiert werden. Was von Profis gemacht wird, so der Irrglaube, ist automatisch besser.

 

Viele Anbieter im Geburtstags-Business sind schon jetzt bis Ende Jahr ausgebucht. Es besteht also ein offensichtliches Bedürfnis nach Angeboten, die es Ihrer Ansicht nach gar nicht braucht.
Die Industrie, die diesen ganzen Klimbim anbietet, fragt sich nicht, was ein Kind braucht, sondern, womit man Geld verdienen kann. Deshalb schwatzt sie jungen Familien Bedürfnisse auf, die sie von sich aus gar nicht hätten. Für manche Eltern kommt es einer Bestätigung gleich, wenn sie nach aussen dokumentieren können, was sie alles in ihr Kind investieren. Bei diesem «etwas bieten wollen» steht also gar nicht das Kind im Zentrum der Überlegung, sondern die Eltern, die es gut meinen – und für viel Geld Angebote bezahlen, die wenig sinnvoll sind.

 

Bereits kursiert der Begriff der «konzertierten Kultivierung», ein Erziehungsstil, bei dem Eltern alles planen, steuern und kontrollieren. Sollen Kinder wieder mehr sich selber überlassen werden?
So generell würde ich das nicht sagen. Das Problem ist, dass sich heute, vereinfacht formuliert, zwei Extreme gegenüberstehen. Die eine Gruppe, die den Kindern alles abnimmt und sie durch ein Überbehüten quasi entmündigt, und die andere Gruppe, die die Kinder nicht ernst nimmt oder ihnen zu wenig Hilfestellung bietet oder sie vernachlässigt.

 

Mit der «Droge Verwöhnung» haben Sie sich intensiv in Ihrem gleichnamigen Buch befasst. Welche Schlussfolgerungen konnten Sie aus den gemachten Studien ziehen?
Dass verwöhnte Kinder – so paradox es klingen mag – in wichtigen Bereichen zu kurz kommen. Ich möchte nicht dramatisieren, aber die Folgen von anhaltender, ausgeprägter Verwöhnung können ähnlich verheerend sein wie jene der Vernachlässigung. Verwöhnung äussert sich ja nicht nur in materieller Form. Verwöhnen heisst auch: dem Kind zu wenig zuzutrauen, ihm mit zu viel Ängstlichkeit vor den Aufgaben des Lebens zu begegnen, ihm zu bewältigende Aufgaben zu schnell abzunehmen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, Frustrationserlebnisse ersparen zu wollen, ihm überschwängliche Bewunderung zukommen zu lassen, von ihm keine Anstrengung zu erwarten, sich uneingeschränkt immer auf – statt an – die Seite des Kindes zu stellen: So sind dann immer alle anderen schuld, wenn etwas nicht klappt. Verwöhnte Kinder haben letztlich einen schweren Stand. Sie nehmen mehr und mehr eine fordernde Haltung ein und können sich nicht mehr an kleinen, einfachen Sachen freuen. Zudem klagen sie häufiger über Langweile. Das ist auch nicht verwunderlich: Diese Kinder sind sich gewöhnt, dass sie unterhalten werden, und sind nicht mehr in der Lage, selber Ideen zu entwickeln. Die Ausdauer fehlt, die Kreativität verkümmert.

 

Eltern klagen, es bestehe ein gesellschaftlicher Druck, Kindern etwas zu bieten. Besteht dieser Druck wirklich, oder legen ihn sich die Eltern selber auf?
Wahrscheinlich beides. Es wäre für Eltern – und Kinder! – wichtig, nicht jedem Druck – woher er auch kommen mag – nachzugeben. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Denn diese Haltung ist nur möglich, wenn man ein intaktes Selbstbewusstsein hat. Nur wer genügend kritisch ist, ist resistent und kann sagen: Das mach ich nicht mit. Wenn dann Kinder vergleichen, am Familientisch äussern, der Freund dürfe aber dieses oder jenes, dann braucht es diese innere Sicherheit, eine seelische Stabilität und ein Bewusstsein, warum man bei seiner Meinung bleibt – und das dem Kind auch so sagt.