PUBLIKATION

Zuger Neujahrsblatt 2018

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.1.2018

«WIR WOLLEN ES BESSER MACHEN!»

 

Lehrmittel prägen unsere Schulzeit, bereiten Kopfzerbrechen, helfen uns auf die Sprünge, werden zum Politikum und vor allem – haben auch in gedruckter Form noch lange nicht ausgedient. Zwei Profis von Klett und Balmer, die es wissen müssen, stehen Red und Antwort.

 

Zu Primar- und Oberstufenzeiten klagten meine Kinder regelmässig über kiloweise mit Schulmaterial gefüllte Schultaschen, die sie zu schleppen hatten. Trägt Ihr Verlag da eine Mitschuld?


Irene Schüpfer: Vermutlich schon, denn unsere Bücher sind an den Zuger Schulen weit verbreitet. Wir sind aber nicht die einzigen, die für die schwere Last verantwortlich sind. Auch von der Konkurrenz tragen Zuger Schüler Bücher herum. Unbestritten ist: Das Schulmaterial wurde in den letzten dreissig, vierzig Jahren umfangreicher. In Geschichte zum Beispiel gab es lange Zeit gar keine Schulbücher. Da stellte sich der Lehrer mit Zeigestock vor ein Schaubild und erklärte der Klasse, was dargestellt wurde.


Robert Fuchs: Mit der Ausweitung des Fächerangebots und der Individualisierung des Unterrichts hat sich das Schulmaterial in den letzten dreissig Jahren differenziert, und das Zusatzmaterial ist – auch aufgrund der Ansprüche der Lehrpersonen – umfangreicher geworden. Ein Produktekranz kann gut und gerne ein Buch, ein Arbeitsheft, eine Audio-CD und eine Box mit Karteikarten umfassen. Immerhin: Den für die Lehrperson bestimmten Kommentarband, eine Art Gebrauchsanweisung, wie das Lehrmittel zu nutzen ist, und auch die weiteren Materialien für die Lehrperson müssen die Kinder nicht mit sich rumtragen.


Irene Schüpfer: Die Tendenz geht aber ganz klar wieder Richtung Reduktion. Bei uns zeigt sich das im Fach Französisch. Mit dem Lehrmittel «Ça bouge», das wir soeben neu für die 5. bis 9. Klasse entwickeln, gibt es pro Semester nur noch ein Heft. Man weiss: Aus didaktischer Sicht ist es nicht sinnvoll, wenn innerhalb eines Faches oder einer Lektion ständig das Arbeitsmaterial gewechselt wird. Das stiftet Unruhe und überfordert manche Kinder.


Man würde meinen, im Zeitalter von Digitalisierung liesse sich der zu lernende Schulstoff platz- und kräftesparend in einem Tablet transportieren. Doch so schnell, heisst es, würden die gedruckten Lehrmittel nicht verschwinden. Stimmt das?


Irene Schüpfer: Die Digitalisierung ist im Gange, jedoch findet keine Revolution, eher eine Evolution statt. Auch geht es gerade in der Volksschule nicht nur um ein Beibringen von Stoff, sondern um eine aktive Auseinandersetzung damit, und da sind Schreibhefte, Karteikarten, Wendeplättchen und weitere physische Materialien dem digitalen Content oft überlegen. Wie stark E-Learning verbreitet ist, unter scheidet sich zudem je nach Kanton und Gemeinde. Noch immer gibt es Schulhäuser, da ist das WLAN nicht schnell genug, um eine ganze Klasse digital zu unterrichten. Handkehrum gibt es in der Schweiz aber auch Volksschulen, wo schon jetzt für jedes Kind Tablets im Einsatz sind. Wenn wir ein neues Lehrwerk konzipieren, steht die Didaktik im Zentrum. Wir überlegen uns, was besser analog, was mit Vorteil als digitaler Lehrwerksteil angeboten werden soll. Meist enthält das Buch oder das Heft einen Code, der zu weiteren, online zugänglichen Übungen und Materialien führt.


Robert Fuchs: Als Verlag müssen wir parallel unterwegs sein, das heisst digitale und analoge Medien auf den Markt bringen. Aus Sicht der Schule ist zu bedenken, dass es mit der Anschaffung der Hard- und Software und einem schnellen Internet nicht getan ist. Es braucht auch das Personal für den Support, was nicht zu unterschätzen ist. Ein Kollege berichtete mir neulich von einem Besuch in einer Schuleinheit, in welcher drei Personen ausschliesslich für den IT-Support zuständig sind. Welche Schule kann sich diesen Luxus leisten? Eine Schule soll darum erst Tablets verteilen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wenn die Lehrpersonen im Umgang damit geübt sind. Die zentrale Frage, die sich für mich stellt, die aber zu meinem Erstaunen kaum diskutiert wird, lautet: Entsteht ein Lernzuwachs, wenn ich vom gedruckten Buch oder Heft auf digitale Medien umstelle?


Irene Schüpfer: Ob digital oder analog: Der Zugang zum Stoff muss gewährleistet und die Unterrichtsmaterialien müssen kostenlos sein. Die Bundesverfassung garantiert den Anspruch auf «ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht an öffentlichen Schulen». Auf der Sekundarstufe II hingegen bezahlen die Schüler respektive der Lehrbetrieb die Materialien. Doch auch hier steht Digitales zu unserem Erstaunen nicht an erster Stelle. Unser Verlag bietet auf dieser Stufe die Werke wahlweise gedruckt und als E-Books an, doch die E-Books verkaufen sich gar nicht so gut, wie wir dachten. Die Lehrlinge bevorzugen Bücher! Anders sieht es bei interaktiven und adaptiven Übungen aus, bei denen sich die Schüler auf eine Plattform einloggen. Diese sind auch in der Volksschule weit verbreitet.

 

Für mich gibt es noch einen anderen Aspekt. Wenn der ganze Unterricht nur noch digital ist, verlernen die Schüler die Kulturtechnik des Schreibens.


Irene Schüpfer: Gerade in der Unterstufe ist es wichtig, dass sich die Schüler nicht nur durch den Stoff klicken, sondern beispielsweise auch ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen entwickeln. Das ist unabdingbar fürs mathematische Verständnis. Statt einer Maus müssen sie unbedingt auch mal einen Stift in der Hand halten und etwas zu Papier bringen oder einen Zahlenraum physisch erfahren, indem sie beispielsweise ein «Hunderterfeld» auf den Boden legen.


Blenden wir zurück ins Jahr 1984. Damals erschien die erste Eigenproduktion Ihres Verlages, der «Lesespiegel». Mit diesem Erstleselehrwerk haben Generationen von Kindern lesen und schreiben gelernt. Wie lautete das Erfolgsrezept?


Irene Schüpfer: Das Geheimnis des Erfolgs beim Lesespiegel lag wohl damals darin, dass das Buch sehr einfach aufgebaut und die Texte kindgerecht waren. Die Kinder hatten das kleine, farbige Lesebüchlein plus zwei Hefte mit vielseitigen Übungen. Zudem lebte der Lesespiegel von zwei Identifikationsfiguren: Es waren die beiden Kinder Mi und Mo. Und es kommen ganz viele Tiere vor. Der Autor ist Kurt Meiers, ein angesehener deutscher Didaktiker, der schon lange in der Schweiz wohnt; übrigens ein begnadeter Redner und leidenschaftlicher Kursleiter. Er muss gut achtzig Jahre alt sein und nimmt gelegentlich an den von uns organisierten Autorenevents teil. Doch inhaltlich ist der «Lesespiegel» nicht mehr zeitgemäss – auf einer Doppelseite geht es um Berufe: Frauen werden dort am Spültrog in der Küche oder als «Hostess» im Flugzeug gezeigt und Männer bei Arbeit, die als typisch männlich galt, zum Beispiel als Automechaniker oder als Maler. Solche stereotypen Rollenbilder wären heute undenkbar. Das gäbe einen Aufschrei!


Weitere Bestseller aus Ihrem Haus folgten, allen voran das Schweizer Zahlenbuch, ein Mathematiklehrmittel für die Primarschule, das Ihr Verlag für den Ihre Cash-Cow?


Irene Schüpfer: Das kann man so sagen. Denn mit Ausnahme der Kantone Zürich, der beiden Appenzell und Graubünden dient es inzwischen in der ganzen Deutschschweiz als Lehrmittel. Momentan entwickeln wir die dritte Generation des Zahlenbuchs. Das Buch war, als es 1995 auf den Schweizer Markt kam, seiner Zeit voraus. Es orientierte sich an der sogenannten Didaktik «mathe 2000», die heute praktisch weltweit in den Schulzimmern zur Anwendung kommt. Das Buch fokussiert auf die Grundideen von Arithmetik, Geometrie und Sachrechnen und konzentriert sich auf das Wesentliche. Die Kinder erhalten Lösungsansätze nicht serviert, sondern entdecken diese selber. So bleiben sie haften. Sie lernen, ihre Überlegungen zu begründen und alternative Lösungswege zu erkunden.


Robert Fuchs: Das Buch behauptet sich aber nicht ohne unser Zutun auf dem Markt. Wir investieren viel für das Marketing, organisieren zum Beispiel jedes Jahr einen Kongress mit Workshops und Vorträgen, um Pädagogen das Lehrmittel näherzubringen. Ein Vorteil ist sicher auch, dass das Zahlenbuch bereits bei der Ausbildung der Lehrpersonen an den pädagogischen Hochschulen zum Einsatz kommt. Somit ist es der jungen Lehrergeneration vertraut und sie nutzt es später auch in der Praxis.


Allen schönen Illustrationen und didaktischen Ansätzen zum Trotz: Mathematik ist und bleibt für viele Schüler und Jugendliche ein Fach mit sieben Siegeln, für manche gar ein einziger Alptraum. Wer ist schuld daran? Der Lehrplan, die Lehrperson oder gar die Kinder, die keinen Sinn für Logik haben oder denkfaul sind?


Irene Schüpfer: Pisa-Studien zeigen: je mehr Mathematikstunden Kinder haben, desto besser sind sie in diesem Fach. In der Schweiz haben wir ein Ost- West-Gefälle. Glarus hat eine hohe Lektionenzahl, Bern die tiefste. Der Unterschied macht fast einen Drittel aus. Das ist viel und das merkt man! Erstaunlicherweise wurde das allerdings erst entdeckt, als man Grundlagendaten für den Lehrplan 21 erhob. Ob Kinder Lerninhalte verstehen und verinnerlichen, hängt abgesehen vom Kriterium der Lektionenzahl primär – und zwar in allen Fächern – von der Lehrperson ab.


Umgekehrt gibt es kaum Kinder, die unter einem Englischtrauma leiden. Die meisten Schüler können kaum warten, bis der Englischunterricht losgeht und sind mit viel Motivation bei der Sache. Haben Sie eine Erklärung?


Robert Fuchs: Englisch ist tatsächlich sehr beliebt, da hat Französisch – egal, welches Lehrmittel man braucht – einen schweren Stand. Auch da gibt es eine interessante Studie. Diese besagt, dass Englisch- und Französischlehrer der Sekundarstufe einen völlig unterschiedlichen Zugang zur Sprache haben und diese darum auch anders vermitteln. Gemäss dieser Studie gelten Lehrpersonen, die Englisch unterrichten, als offener und weniger auf Grammatik fokussiert. Bei ihnen liegt der Fokus mehr auf dem Ziel, dass die Kinder verstehen und sich verständlich machen können. Französischlehrer hingegen sind stärker den Sprachstrukturen verhaftet, und entsprechend gestalten sie auch den Unterricht. Kommt hinzu, dass Englisch bei den Studierenden der Pädagogischen Hochschulen beliebter ist als Französisch.


Abc-Schützen müssen seit jeh als Erstes die Grundfertigkeiten von Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Gibt es in den Jahrzehnten der Erforschungen von Lernverhalten und den Erkenntnissen aus der Lehrpraxis Konstanten, wie und mit welchen Hilfsmitteln Lerninhalte am effektivsten vermittelt werden können?

 

Robert Fuchs: Die Forschung zeigt, dass Lernen nicht wie das Bauen einer Mauer von unten nach oben erfolgt. Lernen bedeutet vielmehr, ein flexibles Netz von Wissensfäden fortlaufend zu verknüpfen und zu erweitern. Und wie bereits gesagt: Die Leidenschaft der Lehrperson zu ihrem Gegenstand – ob das Mathematik, Physik oder Literatur ist – ist das A und O. Nicht zuletzt von der Begeisterung der Lehrperson zu ihrem Fach hängt es ab, dass Kinder mit Freude lernen. Trotzdem: man darf sich nichts vormachen. Lernen ist immer mit Anstrengung verbunden und darf das auch sein. Der Zürcher Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat einmal sinngemäss gesagt, Schule sei «nicht Hallodri, nicht für lustig». Lernen heisst auch mit Frustration und Niederlagen umgehen.

 

Irene Schüpfer: Kinder lernen auf eigenen Wegen. Man kann ihr Lernen anregen, aber nicht steuern. Kinder lernen selbständig, auch aus Fehlern. Kinder lernen durch aktives Entdecken und sie lernen von und miteinander besser als in Konkurrenz zueinander. Wir müssen Lernen als ein konstruktives Tun der Kinder verstehen, so wie es der 1886 geborene Genfer Entwicklungspsychologe Jean Piaget tat. Piaget sah in den Kindern aktive Wesen, die nicht zum Lernen gezwungen werden können, sondern in ihrer spontanen Suche nach Wissen gefördert werden sollten, und die ihre Denkstrukturen selber konstruieren. Doch es dauerte bis in die frühen neunziger Jahre, bis Piagets Grundsätze tatsächlich in der Schule verwirklicht wurden.

 

Eine Umfrage unter Pädagoginnen und Pädagogen zu Lehrmitteln hat vor rund zehn Jahren einigen Wirbel ausgelöst. Verlage, die nach den Regeln der Privatwirtschaft funktionieren, hiess es, erstellten tauglichere Lehrmittel als solche, die im Auftrag der Kantone arbeiten.

 

Irene Schüpfer: Die Ausgangslagen sind unterschiedlich. Für die Volksschule, die unser Hauptmarkt ist, gibt es zwei grosse staatliche Lehrmittelverlage: den Lehrmittelverlag Zürich und die Schulverlag plus AG, die den Kantonen Bern und Aargau gehört. Auch St. Gallen und Solothurn haben eigene Lehrmittelverlage. Für den Lehrmittelverlag Zürich erfolgt der Startschuss für ein neues Lehrmittel immer via Bildungsrat – eine politische Behörde –, der ein neues Lehrmittel bestellt. Bei uns ist dies anders. Wir erhalten von niemandem einen Auftrag, sondern werden von uns aus aktiv und wollen es – salopp gesagt – besser machen als die anderen. Das ist immer mit einem finanziellen Risiko verbunden und zwingt uns dazu, unsere Zielgruppe, die Lehrpersonen, stark einzubeziehen und die Lehrwerke auf sie auszurichten. Selbstverständlich ist es uns ebenso wichtig, moderne Werke auf dem aktuellen Stand der Didaktik zu entwickeln.

 

Robert Fuchs: Am Anfang des Prozesses stehen ein Strategiepapier mit einem von Fachpersonen verfassten Konzept und danach ein Projektantrag. Darin werden Autorinnen und Autoren genannt, die Absatzmöglichkeiten ausgelotet und Kosten geschätzt. Und wir wissen meistens bereits, mit welcher Pädagogischen Hochschule wir zusammenarbeiten werden. Vorgängig suchen wir aber auch den Kontakt zu kantonalen Volksschulämtern und Lehrpersonen. Nur wenn die Chancen vielversprechend sind, dass sich das Lehrmittel auf dem Markt behaupten kann, legen wir los. Dabei darf man nicht vergessen: Lehrmittel sind auch Moden und Trends unterworfen. Noch vor fünf Jahren galt es in der Fachdidaktik als altmodisch und verpönt, in den Fremdsprachen mit Lern- oder Karteikarten zu arbeiten. Also verzichteten wir darauf. Weil Lehrpersonen uns immer wieder daraufhin ansprachen, entwickelten wir später trotzdem gedruckte Wort-Karteikarten für den Fremdsprachenunterricht. Sie wurden zum Renner!

 

Die Produktion von Lehrmitteln wird immer wieder auch zum Politikum, denken wir nur an Sexualkunde oder gesellschaftspolitische Themen wie Umweltschutz oder Verkehr. Herr Fuchs, Sie haben einmal gesagt, die Erarbeitung eines Lehrmittels käme bisweilen einem Kulturkampf gleich. Wieso das?

 

Robert Fuchs: Lehrmittel sind ein Spiegel der Gesellschaft, Ausdruck der Zeit. Das ist ja das Spannende an unserer Branche. Wenn nun ein Lehrmittel einen neuen, modernen didaktischen Ansatz bei der Vermittlung von Lerninhalten verfolgt, der noch nicht etabliert ist, wird es heikel. Solche Auseinandersetzungen finden sich in der aktuellen Fremdsprachendidaktik, in den Fachbereichen «Geschichte» oder «Religion und Ethik», um nur einige zu nennen.

 

Ich dachte nicht so sehr an den didaktischen Ansatz, sondern an den Inhalt. Heftige Diskussionen löste etwa das Lehrmittel «Natur Wert» vom Berner Schulverlag für Schüler ab dem 7. Schuljahr aus. Zum ersten Mal in einem Schweizer Lehrmittel wurde der Schöpfungsglaube im Sinne der Kreationisten mit der Evolutionstheorie als gleichwertige Sichtweise dargestellt. Die in der Bevölkerung verbreitete Ansicht, nämlich der Glaube an Gott bei gleichzeitiger Akzeptanz der wissenschaftlich erhärteten Evolutionstheorie, fehlte im Schulbuch. Das beanstandete Kapitel musste überarbeitet werden.

 

Robert Fuchs: Und als im Jahre 2002 der Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission «Schweiz – Zweiter Weltkrieg» publiziert wurde, war die Aufregung auch gross. Schon bald stellte sich die Frage, ob und wenn ja wie weit die Schlussfolgerung des sogenannten Bergier-Berichts – nämlich die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs wirtschafts- und flüchtlingspolitisch mit dem nationalsozialistischen Deutschland verstrickt gewesen war – in die Lehrmittel einfliessen solle.

 

Irene Schüpfer: Lerninhalte stehen oft in einem gesellschaftspolitischen Kontext. Deshalb verstehen wir gut, dass Behörden, Politik und Eltern sich dafür interessieren und mitreden wollen. Es ist aber nicht so, dass wir uns mit der Politik in einem Dauerstreit befinden, aber die eine oder andere Anekdote ist mir noch präsent. Wir realisierten vor längerer Zeit ein Lehrmittel für das Fach Lebenskunde. Im Kapitel Sexualität und Liebe hatte es Internetadressen von Beratungsstellen, bei denen sich die Schüler Informationen und Unterstützung zu bestimmten Themen holen konnten. Eine Elterngruppe im Kanton Wallis protestierte so heftig gegen die aufgeführten und ihrer Meinung nach zu progressiven Beratungsangebote, dass die Behörden, die an sich hinter dem Lehrwerk standen, die Lehrpersonen baten, die Links mit Tipp-Ex zu übermalen. Das führte natürlich zu viel Gelächter und zu einer kurzen Meldung selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ein anderes Mal beanstandete die Junge SVP des Kantons Luzern, in unserem Zahlenbuch würden in einem Rechnungsbeispiel zu viele fremdländische Namen vorkommen. Tatsache war, dass sich das beanstandete Beispiel auf eine real existierende Klasse bezog. Auch hier: Nach einer kurzen Aufregung in den Medien war die Sache kein Thema mehr.

 

Während in der Schule Methodenfreiheit herrscht, sehen sich Lehrpersonen mit kantonalen Vorgaben betreffend Wahl der Lehrmittel konfrontiert. Wie schafft es ein Verlag, von den Kantonen in die Kategorie «obligatorisch» aufgenommen zu werden?


Irene Schüpfer: Bemühungen seitens der Verlage sind wichtig, um im Markt wahrgenommen zu werden und im Schulzimmer präsent zu sein. Welche Lehrmittel Lehrpersonen verwenden dürfen oder müssen, bestimmen die einzelnen Kantone. Für den Kanton Zug ist es die Lehrmittelkommission, die dem Bildungsdirektor Antrag stellt. Der Kanton Zug unterscheidet zwischen vier Kategorien: obligatorisch, freiwillig, wahlobligatorisch und wahlfreiwillig. Unsere Lehrmittelberater informieren die Kommissionen über Neuerscheinungen, und wir weisen die Lehrpersonen in unserer Kundenzeitschrift darauf hin und laden sie zu Präsentationen ein.

 

Robert Fuchs: Die interkantonale Lehrmittelzentrale (ilz), ein Koordinationsgremium der Kantone für Lehrmittel, hat eigens ein Instrument für Lehrmittelkommissionen entwickelt, das dazu dient, die Diskussion über den Lehrmittelentscheid zu professionalisieren und den Beurteilungsprozess insgesamt transparenter zu gestalten. Das Tool heisst Levanto, und es enthält über 50 Kriterien zur Beurteilung eines Lehrmittels: Die kantonalen Gremien nutzen dieses Tool, um Produkte zu beurteilen und zu entscheiden, ob diese empfohlen beziehungsweise für obligatorisch erklärt werden oder nicht.

 

Bis zur Inkraftsetzung des Lehrplans 21 müssen für alle Fächer passende Lehrwerke zur Verfügung stehen. Was heisst das konkret? Müssen die Lehrmittel komplett neu überarbeitet werden, oder stehen nur minimale Anpassungen an, die im Rahmen von ohnehin geplanten Neuauflagen vorgenommen werden?

 

Irene Schüpfer: Die grosse Mehrheit unserer Lehrmittel, wie etwa das Schweizer Zahlenbuch, die Sprachstarken und Young World sind mit dem Lehrplan 21, der im Kanton Zug 2019/20 in Kraft tritt, kompatibel. Dies können wir sogar belegen, da wir für jede unserer Titelfamilien einen Abgleich mit den geforderten Kompetenzen des Lehrplans 21 vorgenommen und ein sogenanntes Kompetenzraster erstellt haben. Von Grund auf kompetenzorientiert ist unser neustes Lehrmittel «Ça bouge», das Walchwil als erste Zuger Gemeinde im Sommer 2017 eingesetzt hat. Der Lehrplan 21 ist für uns als Verlag auch eine Chance, denn er implementiert beispielsweise das neue Fach «Medien und Informatik». Wir sind daran, zusammen mit einem Informatikprofessor der ETH ein passendes Lehrmittel für den Teil «Informatik» zu entwickeln. Es erscheint im Frühjahr 2018. An diesem neuen Fach zeigt sich gut, dass Lehrmittel weiterhin notwendig sind. Uns geht die Arbeit nicht aus, und spannend bleibt sie sowieso!

 

ZU DEN PERSONEN


Irene Schüpfer, Jg. 1960, ist seit 2006 Geschäftsführerin des Klett und Balmer Verlags. Die Germanistin arbeitet seit dem Jahr 2000 im Verlag. Unter ihrer Führung wurde die Entwicklung von Werken für die Volksschule stark ausgebaut und der Sitz 2013 von Zug nach Baar verlagert.

 

Robert Fuchs, Jg. 1962, ist Programmleiter Volksschule beim Klett und Balmer Verlag. Er studierte Geschichte und Nordistik in Zürich und Berlin und hat langjährige Verlagserfahrung. Bei Klett und Balmer ist er unter anderem für die Englisch-und Französischreihe sowie für Naturwissenschaften und Ethik verantwortlich.