PUBLIKATION

Webpaper Journal 21

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

26.11.2014

BAUM- ODER SEESICHT?

 

Anmerkungen zum Immobilienmarkt

 

Dass Bäume der Vögel wichtigster Lebensraum sind, unser Landschaftsbild verschönern und zum Klettern animieren, wissen die Menschen zwischen Rorschach und Lausanne, aber nur Leute, die in wirklich exklusiven Lagen wohnen, vorzugsweise als Stockwerkeigentümer an Hanglage in Zug, sind sich im Klaren darüber, dass Bäume eigentlich stören. Sie rauben uns den Seeblick.

 

So kam es, dass an der Eigentümerversammlung das Traktandum «Baum» zu behandeln war. Die drei Eschen in unmittelbarer Nähe zum Kinderspielplatz waren kaum gepflanzt und streckten ihre zierlichen Äste mit den wenigen, im Sonnenlicht fast durchsichtig schimmernden Blättern erst zaghaft gegen aussen, schon wurden sie zum Thema. Die Eigentümerin aus dem 3. Stock schlug vor, die Höhe der Bäume – es waren eher Bäumchen – «einzufrieren»: Konkret gefordert wurde ein Wachstumsstopp. Man möge doch bitte bereits jetzt, so der Vorschlag, wo der Baum noch nicht allzu weit gediehen sei, dessen definitive Höhe bestimmen: bis hierher und nicht weiter. Der Einwand eines Sitzungsteilnehmers, die Bäume würden dereinst als Schattenspender für im Sandkasten spielende Kinder eine wichtige Funktion einnehmen, wurde umgehend, mit energischer Handbewegung negiert: «Die Kleinen können einen Sonnenhut anziehen!»

 

Es war klar, worauf die Angelegenheit hinauslief: Die Dame hatte ihre Wohnung mit dem wertsteigernden Hinweis «Seeblick» gekauft und dieser – nicht ein diffuser Blätterblick – sollte auch bei einem allfälligen Wiederverkauf erwähnt werden können. Dass Bäume wachsen, hatte der Dame zuvor niemand gesagt. (Und dass der Schnitt das Wachstum anregt, schon gar nicht).

 

Täuscht es oder gehen der Immobilienbranche bei der Rechtfertigung überteuerter Objekte ganz generell die Argumente aus? Während früher noch mit der zentralen und dennoch ruhigen Lage», dem «familienfreundlichen Quartier», der «Nähe zu Schulen, Einkaufsläden und ÖV» und eben dem obligaten Seeblick – wenn möglich dem ganzen, nicht nur dem partiellen –  geworben wurde, werden je länger je abstrusere «Vorteile» angeblich so prestigeträchtiger Liegenschaften ins Feld gerückt. Die 5-Zimmer-Wohung am Fuss des Zugerbergs, die für 2,8 Millionen Franken weg soll, aber offensichtlich nicht weg will, verfügt laut Inserat in der Küche nicht nur über eine «Glasrückwand mit LED-Steuerung», einen «Induktionsherd und einen Steamer», in der Stube über einen «Langriemen-Schiffsboden-Parkett», im Badezimmer über «Eckbadewanne, ein Lavabo mit Unterbaumöbel, eine begehbare Regendusche», sowie eine «grosse Anzahl Einbauspots und Einbauschränke», sondern sage und schreibe auch über eine «Waschmaschine mit Milbenstopp»! Also, wenn das kein Kaufargument ist.

 

Doch zurück zur Seesicht bzw. zur durch Bäume beeinträchtigten Seesicht. Es zeichnete sich im Laufe der Sitzung ab, dass der Baumgegnerin mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen war, geschweige denn mit einem Zitat von Wojciech Kuczok, dem 1972 geborenen polnischen Schriftsteller, der in seinem jüngsten Buch schreibt: «Jeder Mensch sollte vor dem Fenster einen Baum haben, zumindest den Teil eines Baumes, zumindest ein paar Äste, um zu sehen, wie ein anderer Organismus auf Wind und Regen reagiert, voller Gezwitscher zur Zeit der Vogelversammlungen, in Blüte oder mit fallenden Blättern, ruhig den Jahreszeiten entgegensehend, langlebig. Ich spreche von dem Recht jedes Menschen auf einen durch nichts verstellten Blick auf Blätter und Rinde.»

 

Die Meinungen der Eigentümergemeinschaft zum Traktandum «Baum» waren gemacht: im armen Polen mag sich das Mietvolk über den Anblick eines Baumes freuen, so naiv sind wir Zuger Immobilienbesitzer nicht.