PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Adrian Bär (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

10.2.2014

ZETTELKRIEG UND FINKENDIKTAT

 

Nicht der Leistungsdruck, dem Kinder an der Primarschule ausgesetzt sind, macht den Familien zu schaffen, sondern die Umstandskrämerei der Schule.

 

Gross war die Erleichterung, als Mitte der 1990er Jahre die Blockzeiten realisiert wurden; durchgehende morgendliche Unterrichtszeit von 8 bis 12 Uhr. Sie waren für berufstätige Eltern ein erster wichtiger Schritt in Richtung familienkompatible Schule. Leider ging damals vergessen, dass ein verlässliches Zeitraster auch für den Nachmittag sinnvoll gewesen wäre. So kommt es, dass bis heute an unzähligen Schweizer Primarschulen eigentümliche Schlusszeiten gelten und Kinder - oft nach einer unnötig langen Mittagszeit von bis zu zwei Stunden - einmal um 15 Uhr 15, einmal um 15 Uhr 30 und einmal um 16 Uhr 25 Schulschluss haben. Wozu nur? Um etwas Abwechslung in den Schulalltag zu bringen? Nötig wäre dies nicht. Der Schulbetrieb ist für Eltern von Kindern im Primarschulalter Herausforderung genug: zu viel Misstrauen, zu wenig Augenmass, zu viel Kontrolle, zu wenig gesunder Menschenverstand.

Weiss noch jemand, wann dieses Aufhebens um die Unterschriften angefangen hat, das heute Usus ist? Ein elterliches Telegramm für alles: Ja, wir haben zur Kenntnis genommen, dass unsere Tochter im Diktat eine 4,75 geschrieben hat. Nein, wir möchten nicht, dass unser Sohn auf der Exkursion auf eigenes Risiko mit der Rodelbahn fährt. Ja, wir sind einverstanden, dass unsere Tochter um 13.15 Uhr selbständig vom Mittagstisch in die Klavierstunde marschiert. Ein ebenso intensiver wie konfuser Informationsfluss ist da zwischen Schul- und Elternhaus in Gang, der - statt Klarheit zu schaffen - für Kopfschütteln sorgt.


Schlicht nicht mehr zu übertreffen ist der vor Jahren lancierte Beurteilungskult, der darauf abzielt, sämtliche Verhaltensweisen, Unzulänglichkeiten, Defizite und Potenziale von Schulkindern schriftlich festzuhalten. Ergänzend zu den Zeugnisnoten sind vielerorts umfangreiche Bögen im Umlauf, welche die Eltern zuerst zu Hause ausfüllen müssen, während die Lehrperson selbiges im Schulzimmer erledigt. Im Visier der Beurteilung sind folgende Tatbestände: «überträgt Erkenntnisse auf neue Aufgabenstellungen», «beteiligt sich konstruktiv an Gruppenarbeiten», «beschafft sich der Aufgabe entsprechende Hilfsmittel» und schliesslich «übernimmt Verantwortung für das eigene Lernen». Das Kreuzchen für die total 40 (sic!) Indikatoren muss auf einer Werteskala gesetzt werden, die von «deutlich erkennbar», über «ausreichend erkennbar», «teilweise erkennbar» bis «noch nicht erkennbar» reicht. Bei einem gemeinsamen Gespräch zwischen Eltern und Lehrerin findet dann ein Abgleich der beiden Wertungen statt. Am Schluss der Prozedur wird erneut um die elterliche Signatur gebeten, welche besagen soll, ob «die gesetzlich nicht vorgesehene Bekanntgabe der Informationen» zur «förderorientierten Unterstützung der Schülerin oder des Schülers» an andere Lehrpersonen weitergegeben werden dürfe - oder nicht.


Auf die Idee, dass erwachsene Menschen (Lehrer und Eltern) auch ohne Zuhilfenahme eines von der Schulverwaltung ausgearbeiteten Fragebogens seriös und engagiert über Schwächen und Stärken eines Kindes diskutieren könnten, kommt niemand mehr. Als genauso abwegig würde es mittlerweile gelten, wenn ein Lehrer den Prüfungsstoff gegenüber seiner Klasse mündlich kundtun würde. Stattdessen schleppen heute bereits Erstklässler Dokumente mit «Lernzielen» nach Hause, die en détail schildern, welche Kompetenzen für den anstehenden Test zum Thema Eisbären, Dinosaurier oder Höhlenbewohner erwartet werden.


Vor lauter Angst, es nicht allen recht zu machen, überlässt man nichts mehr dem Zufall. Die Zimmereinteilung fürs Klassenlager wird drei Wochen vor Lagerstart im Klassenrat thematisiert, allerdings erst, nachdem im Plenum hat geklärt werden können, welches das «fairste» Verfahren sei; eine alphabetische Zuteilung nach Vornamen, eine zufällige Auslosung durch den Lehrer oder am Ende doch die freie Wahl durch die Kinder. Bezüglich Festivitäten der lokalen Fasnacht hat das Schulhausteam in einer Teamsitzung beschlossen, dass während der regulären Unterrichtszeit Gesichtsschminke zwar erlaubt ist, auf Konfetti aber verzichtet wird, um das Schulareal sauber zu halten. Bezüglich Schwimmunterricht lässt die Lehrerin schriftlich mitteilen, dass Bikinis nicht erwünscht seien, Haarföhnen jedoch obligatorisch sei. «um Erkältungen vorzubeugen». Die Front des Kühlschranks reicht nicht aus, um die Auswüchse der proaktiven Schulkommunikation, die alles schriftlich ankündigt, vermeldet und genehmigen lässt, anzubringen. Vor allem Eltern mit zwei oder mehr Kindern fürchten die Flut.


Grosser Beliebtheit erfreut sich das sogenannte Kontaktheft, das Eltern über jedes mehr oder weniger löbliche Verhalten ihrer Kinder in Kenntnis setzt, das vor, während oder nach der Schule registriert wurde. «Hat Papierflieger durchs Zimmer geschossen», steht da etwa drin, «beschmutzte den Pullover eines Mädchens mit Tinte» oder ganz knapp «war schwatzhaft». Wäre es nicht einfacher und vor allem wirkungsvoller, der Lehrer würde darauf, falls nötig, mit einer angemessenen Sanktion reagieren? Per E-Mail vernimmt eine Mutter, dass ihr Sohn beobachtet wurde, wie er sich auf dem Weg zum schulischen Mittagstisch in einer Migros-Filiale mit «Pommes-Chips und Limonade» eingedeckt hat - ein Verhalten, das einerseits «nicht gebilligt» werde, anderseits aber auch «nicht verboten» sei. Wozu also die Aufregung?

Logisch: Der Bitte des polizeilichen Instruktors, vor der Veloprüfung die Teststrecke mit dem Sohn ein paarmal abzufahren, um mehr Sicherheit im Strassenverkehr zu gewinnen, kommt man als Eltern gerne nach. Dagegen ist die Liste des umtriebigen Schulleiters über die «Mindestausrüstung eines Velos» (u. a. gute Reifen, zwei wirksame Bremsen, Rückstrahler vorne weiss, hinten rot) überflüssig - Gleiches gilt übrigens auch für das Beiblatt der eidgenössischen Beratungsstelle für Unfallverhütung, welches mit Text und Bild aufklärt, wie man einen Velohelm richtig aufsetzt («zwei Fingerbreit über Nasenwurzel»). Auch für den national orchestrierten Zukunftstag, bei dem Fünft- und Sechstklässler ihre Eltern zur Arbeit begleiten, bieten wir Hand. Aber selbst hier hat es die Schule geschafft, aus der ursprünglich sympathischen Idee eine Staatsangelegenheit zu kreieren. Das berufspädagogische Diktat geht mittlerweile so weit, dass Eltern ihren Kindern Einblick in ein «geschlechtsuntypisches Berufsbild» ermöglichen und dabei von «stereotypen Rollenbilder» absehen sollen.


Mässigung ist nicht in Sicht. So halten es die meisten Lehrer mittlerweile für selbstverständlich, den Erziehungsberechtigten mitzuteilen, welche Füllfederhalter als schulkonform gelten, wie viel Taschengeld fürs Klassenlager angemessen ist, welcher Znüni als gesund erachtet wird und welche Art von Finken im Schulzimmer getragen werden sollen. Nicht, dass den Wünschen nicht entsprochen würde, aber solange die echten Defizite der öffentlichen Schule - allen voran das erwähnte Flickwerk bei den Tagesstrukturen - nicht angegangen werden, wirken solche Nebensächlichkeiten wie eine Provokation.


Schlimm genug, dass Heerscharen von Eltern den Feierabend damit verbringen, mit ihrem Nachwuchs Mathematik, Deutsch und Französisch zu büffeln. Doch weitaus ärgerlicher ist das verbürgte Beispiel einer Mutter, die spätabends noch damit beschäftigt ist, das Schulmaterial ihrer Tochter in Packpapier zu fassen - um anderntags vom Klassenlehrer schriftlich gerügt zu werden: Nicht in Papier hätte das Schweizer Zahlenbuch eingefasst werden sollen, sondern in Klarsichtfolie. Jetzt reicht's!

 

Interview mit Marion Heidelberger,46, Vizepräsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes Schweiz LCH und Primarlehrerin in Bülach (ZH)

 

Wie gut ist es um die vielgelobte Kultur an den Volksschulen bestellt, wenn nur noch schriftlich kommuniziert wird und für alles eine Unterschrift nötig ist?
Durch das neue Modell der geleiteten Schulen, also den Einsatz von Schulleitern, ist es zu strukturellen Änderungen gekommen. So hat sich einiges in der Kommunikation verändert. Vieles, was früher in der alleinigen Verantwortung des Klassenlehrers lag - Beurteilung, Sanktionen, Dispensationen, Hausaufgaben usw. -, wird nun von oben definiert und gesteuert. So entstehen überall verbindliche Regelungen und standardisierte Vorgaben, was sich etwa in den vielen Papieren niederschlägt, die Schulkinder nach Hause tragen.


Nicht einmal vor der Wahl des Füllfederhalters, des Leimstifts oder der Finken macht die Bevormundung halt.
Es wird teilweise übertrieben und nicht immer Mass gehalten. Für die Schule wirkt sich solcher Aktivismus nachteilig aus, weil in der Flut der Mitteilungen nicht mehr eruierbar ist, was für einen guten Schulbetrieb wirklich relevant ist und was nicht. Es soll Lehrer geben, die teilen den Eltern sogar schriftlich mit, welches Sanktionssystem in der Schule zur Anwendung kommt. Das ist nicht nur unnötig, sondern auch kontraproduktiv. Ich will doch als Lehrerin auch nicht wissen, zu welchen Massnahmen Eltern greifen, wenn das Kind zu Hause sein Zimmer nicht aufräumt.


Überall lauern Gefahren. Lehrer argumentieren mit Datenschutz, Eltern drohen mit Anwälten. Gesellt sich zum Motto «zéro tolérance» nun auch noch die Formel «zéro confiance»?
Das Misstrauen zwischen Schule und Elternhaus ist eindeutig grösser geworden. Die Abkehr von der reinen Leistungsbeurteilung hin zu einer ergänzenden Wertung von Sozialkompetenz und Arbeitseinstellung hat dazu geführt, dass Lehrpersonen jedes noch so kleine Fehlverhalten registrieren, schriftlich festhalten und zu Hause unterschreiben lassen. Wenn ein Kind im Zeugnis einen negativen Eintrag im Bereich Sozialkompetenz erhält, sind es die Eltern, die regelrecht nach «Beweisen» schreien. Insofern tragen sie eine Mitschuld am allseits beklagten Papierkrieg.


Dieses Bedürfnis nach Beweisen und Schriftlichkeit hat das Verhältnis zwischen Schule- und Elternhaus also nicht verbessert.
Im Gegenteil. Das Verhältnis ist teilweise richtig gestört, und im Konfliktfall geht es schnell hart auf hart. Ich gebe nun seit 25 Jahren Schule. Als ich zu meiner Anfangszeit Elterngespräche führte, gab es dafür keine Vorgaben von der Verwaltung. Trotzdem habe ich mit den Eltern immer eine Lösung im Sinne des Kindes gefunden. Heute finden solche Zusammenkünfte unter Zuhilfenahme von umfangreichen Unterlagen statt, werden Striche und Kreuzchen gemacht, und man fragt sich, ob das Kind in irgendeiner Form von dieser Materialschlacht profitiert. Kontakthefte, wie sie heute vielerorts geführt und propagiert werden, um Versäumnisse der Kinder einzutragen, haben keinerlei pädagogischen Wert und sind für ein Primarschulkind kein Ansporn, sein Verhalten zu ändern. Entscheidend ist, dass eine Lehrerin ihre Linie findet und diese sowohl im Schulzimmer wie auch gegen aussen konsequent vertritt.


Statt Defizite bei den Tagesstrukturen anzugehen, wird Zeit und Geld in Kampagnen wie «gsunde Znüni» gesteckt. Sind die Prioritäten richtig gesetzt?
Aus Sicht des LCH haben die Optimierung der Tagesstrukturen und die Schaffung von öffentlichen Tagesschulen eindeutig Vorrang, weil davon die Familien unmittelbar profitieren. Was die erwähnten Kampagnen anbelangt, geht die Initiative nie von der Lehrerschaft aus, sondern von Gemeinden, Firmen und Stiftungen, die sich die Gesundheitsprävention an den Schulen auf die Fahne geschrieben haben und ihre Anliegen teilweise recht penetrant ins Schulzimmer tragen. Hier bedarf es dringend einer kritischen Haltung der Lehrperson. Denn nicht überall wo «gesund» und «sportlich» draufsteht, ist gleich Handlungsbedarf angesagt.


Ist es Übereifer oder Unsicherheit, wenn gestandene Lehrer Mütter und Väter auffordern, Fragen, die am Elternabend gestellt werden möchten, vorab schriftlich einzureichen?
Viele Lehrer sind verunsichert, haben Angst, einen Fehler zu machen, und einen Bammel, bei einem Elternabend Red und Antwort zu stehen. Eltern sind in den Augen der Lehrer häufig eine Art Schreckensgespenst, das vor allem Ärger macht, und nicht ein Gegenüber, mit dem man vernünftig diskutieren kann. Aus diesem Grund lernen heute angehende Lehrerinnen und Lehrer an den pädagogischen Hochschulen, wie der richtige Umgang mit (schwierigen) Eltern gelingt und auf welche Probleme man sich einstellen muss.


Die Lehrerschaft klagt, dass vor lauter Administration das Unterrichten zu kurz komme. Ist sie daran auch selber schuld?

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass im Schulbetrieb oft auch über weniger wichtige Sachverhalte stundenlang in Sitzungen diskutiert wird. Mit dieser Aussage mache ich mich zwar nicht beliebt, aber jeder, der die jahrelangen Teamsitzungen miterlebt und in Arbeitsgruppen Einsitz genommen hat, weiss, dass es so ist.