PUBLIKATION

Tages Anzeiger

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

31.12.2013

KEIN AIRBAG FüR DEN BUSEN

 

Ein Plädoyer gegen Pushup BHs und für mehr Freiheit: ohne Schaumstoff, Hebebügel und doppelten Boden.

 

Wo ist er geblieben, der ganz normale BH ohne Schale, ohne Steg, ohne Bügel und doppelten Boden? Der Büstenhalter, der Brüste nur sanft an den Körper drückt, sie lediglich bedeckt, nicht wie Gummibälle nach oben schnellen oder wie Melonen prall erscheinen lässt? Der meine Brüste so nimmt, wie sie sind: 41 Jahre alt, Körbchen A, für zwei Kinder vor vielen Jahren stillend im Einsatz.

 

Nirgends. Und wieso? Weil ihn niemand braucht, niemand will, niemand kauft. Frau trägt Push-up, und dies seit Jahren; 14-jährige Mädchen genauso wie 81-jährige Grossmütter. Es ist ein Elend. Diese Einsicht habe ich meinem Freund zu verdanken, der mich vor kurzem aus zwei Metern Distanz vor sich hinstellte, seinen Blick auf meine Brüste richtete und dann nett fragte: "Warum tut Ihr Frauen Euch das eigentlich an? Warum tragt Ihr Airbags für den Busen? Glaubt Ihr, das sehe toll aus?"

 

Ein Tabu war gebrochen. Ich, die ich mich wie Millionen andere Frauen jahrelang dem Diktat formzwängender Büstenhalter unterworfen habe, im Glauben, dies sehe gut – oder gar sexy – aus, dies werde von Männern nicht nur geschätzt sondern richtiggehend erwartet, wurde völlig überraschend mit dieser Frage konfrontiert und gab zur Antwort: "Frauen denken, dass Männer glauben, das sehe toll aus." Ich fing an, mein weibliches Umfeld genauer zu beobachten und sah plötzlich hinter eng gespannten T-Shirts nur noch lächerliche, nach oben gedrückte oder gar nach innen gerichtete Kugeln, die nichts mit der originären Anatomie der weiblichen Brust zu tun hatten. Kugeln, die schon von weitem erahnen liessen, dass die Diskrepanz zwischen natürlicher und forcierter Form gewaltig sein muss. Kugeln, die Dimensionen versprachen, die sie nie und nimmer einzulösen im Stande waren. Bälle, die da waren, wo sie freiwillig nie wären.

 

Man könnte jetzt widersprechen und sagen, wenn ein nackter Busen alters-, figur- oder gewebebedingt in seiner Konsistenz schon nicht mehr fest und prall ist, soll er doch wenigstens unter Bluse oder Pullover so aussehen; quasi, so tun, als ob. Irrtum! Frau sollte ihren Busen nur dergestalt verpacken, dass die dadurch erreichte Form nicht allzu sehr vom Original abweicht. Die grosse Enttäuschung beim Gegenüber ist sonst – wenn die Hüllen fallen – vorprogrammiert. Und wir wollen doch beglücken, wenn wir den BH ausziehen, nicht brüskieren.

 

Sogar aus medizinischer Sicht wird nun das Ende des Busenairbags diskutiert. Das Tragen von zu stark stützenden Büstenhaltern, verkündete der französische Medizinprofessor Jean-Denis Rouillon vor ein paar Monaten gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, sei "kontraproduktiv". Es verurteile den Busen zur Untätigkeit, wodurch er schlaff werde und ausleiere. Sogar die Position der Brustwarze wirke sich nachteilig aus, wenn der Busen durch den BH über Jahrzehnte zu viel Stütze erfahre. Der Professor der Universität Besançon nahm für seine Studie Messungen an der Brust von 320 Frauen vor.

 

Männer! Kommt mal mit in die Dessous-Abteilungen der Fachgeschäfte und bahnt Euch einen Weg zwischen "Decolleté-BH mit Einlage", "Contour-BH aus 3D-Material" "Triangel-BH mit Gel-Pads", "Hebe-BH mit Maxi-cups". Fällt Euch etwas auf? Neunzig Prozent der Büstenhaltermodelle sind entweder gemoldet, gepusht oder gepaddet und dienen dazu, die Brüste zu "akzentuieren" oder zu "maximisen". Doch derlei ist nicht nötig. Der BH muss sich dem Busen anpassen, nicht umgekehrt! Wer einen andern Busen will, soll unters Messer. Frauen! Probiert mal den roten "Serenity" von Passionata mit der hübschen Lochstickerei oder den "Pepita" von princesse tamtam mit jadegrünem Blümchenmuster und niedlichen Spitzen. Nur Stoff, kein Metall. Toll sieht das aus und ist obendrein bequem!

 

Euch BH-Fabrikanten und -Designern sei gesagt: Dem weiblichen Busen, egal welchen Alters, fehlt es an nichts. Er darf hängen – nicht bis zum Bauch, aber ein bisschen hängen darf er wohl, und halten sollen ihn statt gummiertes Gestänge ein paar zärtliche (Männer)-Hände.


Sabine Windlin wohnt und arbeitet als freischaffende Journalistin in Zug. Sie hat einen Sohn (12) und eine Tochter (11). www.sabinewindlin.ch