PUBLIKATION

NZZ am Sonntag
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

2.10.2005

«ICH BIN NOCH NICHT GEBOREN WORDEN»

 

Der Kurator Hans-Ulrich Obrist spielt im Alter von 37 Jahren bereits in der obersten Liga der internationalen Ausstellungsmacher. Doch wenn man ihn fragt, dann steht er erst am Anfang.

 

Herr Obrist, die Sonntagsausfahrt im Kinderwagen scheint Ihnen zu behagen.
Klar, ich bin da ein Jahr alt. Das Foto entstand 1969 in Flims.


Ihr Vater beliebte zu scherzen?
Es sieht so aus. Er war Buchhalter, meine Mutter Lehrerin. Sie standen meiner frühen Reisetätigkeit nicht im Wege. Ich besuchte ja das Gymnasium in der Grenzstadt Kreuzlingen. Zwei- oder dreimal pro Tag reiste ich mit dem Pass über die Grenze, um nach Konstanz ins Kino oder Café zu gehen.


Hat die Praxis der Grenzüberschreitung Ihre Biografie konditioniert?
Ja, es kam die Lust, weitere Grenzen zu überschreiten. Mit 14 Jahren habe ich beschlossen, die Kunst zu entdecken. Ich kaufte mir ein Interrail-Ticket und besuchte unzählige Ausstellungen in Europa. Mein Konzept war eine Stadt pro Tag. Im Sommer ergab das in 30 Ferientagen 30 Städte in Europa.


Waren Sie ein Einzelgänger?
Überhaupt nicht. Gerade weil ich alleine reiste, führte dies zu vielen Begegnungen. Ich lernte unglaublich viele Leute kennen, zu denen ich teilweise noch heute Kontakt habe. Als Einzelkind hatte für mich ein Netzwerk eine besondere Bedeutung.


Bei Ihrer ersten Ausstellung waren Sie 23 Jahre alt. Worum ging es da?
Unter dem Titel «World Soup» lud ich Künstler wie Peter Fischli, David Weiss und Christian Boltanski ein, Installationen in der Küche meiner damaligen Wohnung in St. Gallen zu realisieren. Ich wollte die Küche in ihrer Funktionsfähigkeit als Ausstellungsort prüfen; ganz im Sinne von Robert Musil, der sagte, dass Kunst auch da auftauchen kann, wo wir sie am wenigsten erwarten. Auch der damalige Kurator der Fondation Cartier sah die Ausstellung und hat mich als Stipendiaten nach Frankreich eingeladen.


Warum wurden ausgerechnet Sie für das Stipendium ausgelesen? Sie hatten ja gar keine künstlerische Bildung.
Aber ich hatte seit acht Jahren intensiv in vielen Teilen Europas über Kunst recherchiert. Im Nietzsche- Haus in Sils Maria, einem kleinen Museum, wo sonst keine Gegenwartskunst gezeigt wird, kuratierte ich eine Ausstellung mit dem deutschen Maler Gerhard Richter. Das muss der Fondation imponiert haben.


Richter gilt mittlerweile als teuerster Künstler der Welt. Ahnten Sie, dass auch Ihnen eine grosse Karriere bevorstehen würde?
Es ging nicht um Karriere. Es gab auch keinen Plan, nur eine relativ obsessive Notwendigkeit, etwas zu machen. An der Art und Weise, wie ich arbeite, hat sich insofern bis heute nichts geändert. Ich tue noch heute, was ich tun muss. Ich mache eine Ausstellung, wenn der Drang besteht. Ob dies der Fall ist, merke ich, wenn ich über den Künstler recherchiere und mich mit ihm im Gespräch auseinandersetze.


Harald Szeeman sagte einmal, er zähle Sie zu seinen Enkeln. Welche Beziehung hatten Sie zum «Grossvater»?
Seine experimentellen Grossausstellungen waren wegweisende Erlebnisse, allen voran «Der Hang zum Gesamtkunstwerk» im Zürcher Kunsthaus. Szeemann wusste mit Geschichte und Erinnerung dynamisch umzugehen. Ich versuche etwas Ähnliches, indem ich einerseits jungen Künstlern eine Plattform gebe, gleichzeitig aber die alten Künstler nicht vergesse. Deshalb interessiere ich mich nicht nur für Newcomer, sondern auch für Künstler wie Paul-Armand Gette und Yona Friedmann, beide weit über achtzig.


Ihre grössten Ausstellungen «Utopia Station» und «Cities on the move», die zum Teil weltweit tourten, basieren auf zwei Elementen: Dialog und Mobilität. Muss man immer unterwegs sein, um gute Ausstellungen zu machen?
Nein, es gibt Momente, wo gar keine Reisen notwendig sind, sondern wo es darum geht, die Ausstellung inhaltlich und handwerklich in den Griff zu kriegen. Für mich, der tatsächlich viel unterwegs ist, bedeutet Mobilität aber nicht nur Tempo. Mobilität kann Prozesse auch verlangsamen. Ich fliege ja nicht einfach viel herum, weil ich das toll finde, sondern weil ich mir die Zeit nehme, mit den Künstlern zu reden. Manchmal diskutiere ich acht Stunden mit einem Künstler in seinem Atelier in Singapur oder Rotterdam.


Man sagt, Sie seien hyperaktiv.
Nein, ich schlafe relativ wenig und kriege dadurch viel erledigt.


Sie sind ein Schnelldenker. Könnte es sein, dass Sie gewisse Leute überfordern?
Dieses Problem haben nur die Schweizer, wo ich öfter höre, ich solle langsamer sprechen. Geschwindigkeit ist aber relativ. In Italien, Deutschland und Frankreich hat niemand ein Problem mit meinem Tempo.


Wenn Sie eine Ausstellung konzipieren, denken Sie dann, was Sie selber gerne sehen möchten, oder denken Sie, was der Besucher am liebsten sehen würde?
Beides. Am Anfang steht jeweils die Frage: Was fehlt? Bin ich der Ansicht, dass die Arbeit eines bestimmten, von mir für gut befundenen Künstlers zu wenig Aufmerksamkeit hat, kommt er für eine Ausstellung in Frage? Aber eine Ausstellung ist nur sinnvoll, wenn sie ein Experiment ist und herausfordert: den Künstler, den Besucher, den Kurator.


Wann ist für Sie eine Ausstellung eine gute Ausstellung?
Grosse Ausstellungen erfinden immer auch neue Spielregeln. Es muss lange und schnelle Zonen geben, laute und leise. Das Oszillieren zwischen Gross und Klein, Privat und Öffentlich macht die Energie einer Ausstellung aus. In der Schweiz finden leider keine grossen Ausstellungen statt.


Was heisst gross? Grosses Budget, grosse Namen?
Grosse Ambitionen.


Das Kunsthaus hat eine grosse Einzelausstellung über Sigmar Polke gemacht.
Ja, die war grossartig und ist Bice Curiger zu verdanken. Aber das reicht nicht. Was in der Schweiz fehlt, sind disziplinenübergreifende Ausstellungen, wo die Ideen zwischen den Sparten Architektur, Philosophie, Musik, Ökonomie fliessen. In Asien und Afrika, überall, existiert dieser Typ Ausstellungen, aber in der Schweiz: nichts. Am fehlenden Geld kann es nicht liegen, also muss es an den fehlenden Ambitionen liegen. Ich bringe hier keine Kritik zum Ausdruck, eher eine Verwunderung.


Ist das Kuratieren selbst eine Kunst?
Es gibt Kuratoren, die selber einmal Künstler waren. Das war bei mir nie der Fall. Ich war von Anfang an Kurator und sehe darin keine künstlerische Aktion. Ich habe einfach etwas gegen standardisierte Ausstellungsmodelle und bin vielleicht etwas mutiger als andere. Ich sehe mich als einen Komplizen der Künstlerinnen und Künstler.


Besitzen Sie selber auch Kunst?
Sehr wenig. Wenn ich Sammlungen aufbaue, tue ich das für Museen oder für Firmen, die mich dazu beauftragt haben.


Im Frühling nahmen Sie in Zürich an einem Kunst-Symposium teil. Sie waren umzingelt von Künstlern, Galeristen und Journalisten. Dasselbe Bild bot sich an der Art Basel. Stehen Sie gerne im Mittelpunkt?
Es geht nicht darum, im Mittelpunkt zu stehen. Ich möchte bei solchen Veranstaltungen den freien Gedankenfluss zwischen begabten Menschen fördern. Darum geht es. Wenn ich an einer Biennale teilgenommen habe, brauche ich anschliessend ein Korrektiv. Ich organisiere dann wieder kleinere Ausstellungen wie zum Beispiel die Robert-Walser- Vitrine in Gais oder die Postkarten- Ausstellung auf dem Gipfel des Säntis.


Viele Künstler sind von Selbstzweifeln geplagt. Zweifeln Sie manchmal auch?
Der Zweifel ist ein wichtiges Medium, aber er ist nicht mein Antrieb. Mein Antrieb ist die Neugierde und die Freude am Experimentellen. Die Kunstwelt ist darum für mich die beste Welt. Ich werde sie nicht verlassen.


Woran erkennen Sie einen guten Künstler?
Das ist eine Frage der Erfahrung und Intuition. Ich habe Tausende von Ausstellungen besucht und ebenso viele Künstler getroffen. Aufgrund dieser langjährigen Erfahrung wähle ich Künstler aus wie jetzt in Oslo, wo eine grosse Ausstellung über junge amerikanische Kunst startet. Es ist eine Plattform für die Künstlergeneration, die um 1980 geboren wurde. Dafür habe ich in den letzten zwei Jahren über tausend Dossiers gesichtet. Mein Motto liegt bei Jean Cocteau: «Etonnez-moi!» Ein Künstler muss mich erstaunen.


Was haben Sie durch die Kunst über sich selber gelernt?
Dass ich einem Prozess der permanenten Veränderung unterstellt bin und dass Spekulationen über die Zukunft sinnlos sind.


Sie sind jetzt 37 und so erfolgreich wie andere am Ende ihrer Laufbahn. Beunruhigt Sie die Vorstellung, den Zenit Ihrer Laufbahn vielleicht schon überschritten zu haben?
Ich stehe doch ganz am Anfang. Tatsumi Hijikata, der Begründer des japanischen Butoh-Tanzes hat bis ins hohe Alter immer wieder gesagt: «I'm not born yet.» Ich bin noch nicht geboren worden. Ich denke, das gilt auch für mich.


ENDE INTERVIEW


Hans-Ulrich Obrist wurde 1968 in Zürich geboren. Aufgewachsen ist er in Weinfelden. Obrist gehört weltweit zu den tonangebenden Kuratoren für zeitgenössische Kunst. Seine ersten Ausstellungen machte er schon, als er noch im Teenageralter war. Seine erste Ausstellung überhaupt inszenierte er in der eigenen Küche in St. Gallen. Später folgten Ausstellungen in einem Hotelzimmer, in einem Flugzeug der Austrian Airlines, im Tiefgeschoss eines Shoppingcenters. Grosse Ausstellungen kuratierte er in Berlin, London, Moskau, Dakar, Seoul und Bangkok. Obrist kommt mit wenig Schlaf aus und gilt als hyperaktiver und begnadeter Netzwerker. Er selbst sieht sich vor allem als «Komplizen der Künstler». Obrist, der fünf Fremdsprachen fliessend spricht, ist seit 2001 Kunstprofessor an der Universität Venedig, Herausgeber und Autor einer Vielzahl von Büchern und seit fünf Jahren Kurator im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris. Am 8. Oktober eröffnet das Astrup Fearnley Museum in Oslo die von Obrist kuratierte Ausstellung «Uncertain States of America».